Familie und Alltag

Stefanie Fischer
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Zusammenfassung


Die Ge­schich­te der jü­di­schen Fa­mi­lie und des jü­di­schen All­tags ist eine in­ti­me, per­sön­li­che Ge­schich­te, die nach dem In­di­vi­du­el­len fragt, nach der Ge­schich­te von Juden und Jü­din­nen jen­seits der öf­fent­li­chen Bühne. Die All­tags­ge­schich­te spürt nach, wie sich so­zia­le und kul­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen auf sub­jek­ti­ve Er­fah­run­gen aus­ge­wirkt haben. Dabei tritt das In­di­vi­du­um in der Ge­schich­te in den Vor­der­grund.

Im Ham­bur­ger Raum be­ginnt das jü­di­sche Familien-​ und All­tags­le­ben mit der An­sied­lung einer jü­di­schen Ge­mein­de im 16. Jahr­hun­dert und ist stark an die Orte Ham­burg, Al­to­na und Wands­bek ge­bun­den. Ähn­lich wie die an­de­ren ur­ba­nen jü­di­schen Zen­tren in Asch­ke­nas zeich­ne­ten von Be­ginn bis in die Ge­gen­wart räum­li­che und so­zia­le Be­son­der­hei­ten das jü­di­sche Leben im Ham­bur­ger Raum. Zum einem präg­te der Cha­rak­ter der Han­se­stadt Ham­burg als wich­ti­ge Ha­fen­me­tro­po­le das jü­di­sche Leben. Zum an­de­ren ge­stal­te­ten neben den dort an­säs­si­gen auch immer durch­rei­sen­de und zu­zie­hen­de Juden das All­tags­le­ben mit. Dies be­gann be­reits mit der An­sied­lung der Se­far­den im 16. Jahr­hun­dert. Spä­ter im 19. Jahr­hun­dert hiel­ten sich ost­eu­ro­päi­sche Juden auf der Suche nach einer neuen Hei­mat auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent vor­über­ge­hend in Ham­burg auf und im 20. Jahr­hun­dert deut­sche und eu­ro­päi­sche Juden auf der Flucht vor den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten. In der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts präg­ten zu­nächst jü­di­sche Dis­pla­ced Per­sons (DPs) und ab den 1990er-​Jahren jü­di­sche Kon­tin­gent­flücht­lin­ge aus der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on das jü­di­sche Familien-​ und All­tags­le­ben in Ham­burg.

Die Ge­schich­te des jü­di­schen All­tags in Ham­burg bleibt auf­grund der Quel­len­pro­ble­ma­tik ein heik­les Un­ter­fan­gen. Zwar ge­lingt es dank einer punk­tu­ell dich­ten Über­lie­fe­rung — zum Bei­spiel durch die Auf­zeich­nun­gen von Glikl von Ha­meln und dem Al­to­na­er Rab­bi­ner Jakob Emden — ein sehr dich­tes Bild vom jü­di­schen All­tag die­ser Per­so­nen zu zeich­nen, den­noch blei­ben Teile des jü­di­schen All­tags­le­bens jen­seits solch pro­mi­nen­ter Fi­gu­ren, wie etwa das der Hau­sie­rer, Klein­wa­ren­händ­ler und Durch­rei­sen­den, auf­grund man­geln­der Über­lie­fe­rung und Zer­stö­run­gen ein wei­ßer Fleck.

Das jüdische Alltagsleben in der frühen Neuzeit


Auf das jü­di­sche Familien-​ und All­tags­le­ben wirk­ten über die Jahr­hun­der­te na­tür­li­che, so­zia­le, po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Rah­men­be­din­gun­gen ein. Die Frage, wo Juden an­säs­sig wer­den und woh­nen durf­ten, be­ein­fluss­te den jü­di­schen All­tag bis zur recht­li­chen Gleich­stel­lung im 19. Jahr­hun­dert maß­geb­lich. Dabei va­ri­ier­ten die äu­ßer­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen stark zwi­schen den ein­zel­nen Ob­rig­keits­ge­bie­ten, wie sich im Ham­bur­ger Raum ganz ein­drück­lich zeigt. So ge­währ­ten die Gra­fen von Holstein-​Schauenburg den Al­to­na­er Juden einen bes­se­ren recht­li­chen Sta­tus als die be­nach­bar­te Han­se­stadt Ham­burg. Daher hiel­ten sich viele Juden in der frü­hen Neu­zeit nur zeit­wei­lig in Ham­burg auf. Teil­wei­se kamen Al­to­na­er Juden nur zum Ar­bei­ten nach Ham­burg und ver­lie­ßen die Stadt abends wie­der. Wie aus den Me­moi­ren von Glikl van Ha­meln über­lie­fert ist, lie­fen die Män­ner dabei Ge­fahr nachts auf dem Nach­hau­se­weg über­fal­len zu wer­den.

Die dis­kri­mi­nie­ren­den an­ti­jü­di­schen Ge­set­ze be­schnit­ten jü­di­sche Fa­mi­li­en nicht nur in ihrer Mo­bi­li­tät, son­dern auch in ihrem Wirt­schaf­ten. Ein Teil der in Ham­burg an­säs­si­gen se­far­di­schen Juden be­tä­tig­te sich im Bank­we­sen, im Groß- und Über­see­han­del, was ihnen einen ge­ho­be­nen Le­bens­stil er­mög­lich­te. Den­noch war die Mehr­zahl der se­far­di­schen Ge­mein­de­mit­glie­der kei­nes­wegs wohl­ha­bend, wie eine Liste der Ge­mein­de­ab­ga­ben aus dem 17. Jahr­hun­dert be­legt. Ein Gros der se­far­di­schen Juden be­tä­tig­te sich als Schäch­ter, Stein­schnei­der, Fleisch­händ­ler, Ta­bak­händ­ler und Ta­bak­spin­ner oder auch als Zu­cker­sie­der. Die asch­ke­na­si­schen Juden, die sich erst Ende des 16. Jahr­hun­derts in Al­to­na nie­der­lie­ßen, stell­ten zu­nächst neben den Se­far­den die zah­len­mä­ßig klei­ne­re jü­di­sche Ge­mein­de dar.

Den bei­den Grup­pen ge­mein ist je­doch ihre star­ke Prä­senz im Han­del, der wie­der­um den Fa­mi­li­en­all­tag präg­te. Die Han­dels­tä­tig­keit brach­te es mit sich, dass die Män­ner je nach Art der Tä­tig­keit von Sonn­tag bis zu Be­ginn des Schab­bats am Frei­tag­nach­mit­tag in ihrer Me­di­neh (Han­dels­ge­biet) un­ter­wegs waren. Nicht sel­ten kam es vor, dass die Händ­ler für au­ßer­häus­li­che Ge­schäf­te gar wo­chen­lang auf Rei­sen ab­we­send waren. Die Frau­en küm­mer­ten sich wäh­rend­des­sen um die Kin­der­er­zie­hung und um den Haus­halt; in vie­len Fäl­len über­nah­men sie aber auch die Ge­schäfts­füh­rung in Ver­tre­tung ihrer Män­ner.

Bis Ende des 19. Jahr­hun­derts – in är­me­ren Fa­mi­li­en weit dar­über hin­aus – nah­men Frau­en, wenn auch auf an­de­ren Han­dels­ge­bie­ten, so doch ar­beits­tei­lig am Er­werbs­le­ben teil. Eine be­kann­te Ver­tre­te­rin von selb­stän­di­gen jü­di­schen Frau­en ist Glikl van Ha­meln, die mit sehr un­ter­schied­li­chen Er­zeug­nis­sen han­del­te. Ihre Me­moi­ren geben uns einen le­ben­di­gen Ein­druck vom All­tags­le­ben einer jü­di­schen Frau und Fa­mi­lie aus dem Ham­bur­ger Raum. Wie Glikl van Ha­meln ge­hör­ten auch Frau­en als Händ­le­rin­nen zu den Rei­sen­den, unter ihnen fan­den sich be­son­ders viele Wit­wen, die so ihren Le­bens­un­ter­halt be­strit­ten.


Ber­tha Pap­pen­heim im Kos­tüm der Glikl van Ha­meln. Ge­mäl­de von Leo­pold Pi­li­chow­ski
Quel­le: Das Ori­gi­nal des Bil­des ist ver­schol­len. Re­pro­duk­tio­nen sind ent­hal­ten im ers­ten Ka­len­der des Jü­di­schen Frau­en­bun­des (1925) und in den Blät­tern des Jü­di­schen Frau­en­bun­des (Aus­ga­be 4, April 1932), Wi­ki­me­dia Com­mons, ge­mein­frei.


Eine an­de­re Her­aus­for­de­rung, die mit den lan­gen Ge­schäfts­rei­sen der Män­ner ein­her­ging, war die lange Tren­nung der Män­ner von ihren Kin­dern und Frau­en. Wie aus der rab­bi­ni­schen Re­spon­sa­li­te­ra­tur aus Ham­burg be­kannt ist, ver­führ­te die lange Ab­we­sen­heit von zu Hause den ein oder an­de­ren Ehe­mann zu au­ßer­ehe­li­chen Af­fä­ren . Das war aber si­cher­lich keine Ham­bur­ger Be­son­der­heit.

Gemeinsame und getrennte Räume: Wohnen und Wirtschaften


Bis die bür­ger­li­chen Rech­te den Ham­bur­ger Juden im Jahr 1861 ge­währt wur­den, be­stimm­te die Ob­rig­keit nicht nur an wel­chem Ort sich Juden nie­der­las­sen durf­ten, son­dern auch wo in einem Ort bzw. in wel­cher Stra­ße und in wel­chem Stadt­vier­tel Juden woh­nen und sie­deln durf­ten. Bei­spiels­wei­se waren drei­vier­tel aller Ham­bur­ger Juden in der nörd­li­chen Neu­stadt und in der Alt­stadt an­säs­sig.

Für Al­to­na und Wands­bek las­sen sich für die frühe Neu­zeit keine kon­kre­ten Wohn­ge­bie­te be­nen­nen, hier ist le­dig­lich eine Häu­fung von jü­di­schen Wohn­häu­sern um die Syn­ago­gen zu be­ob­ach­ten. Die Nie­der­las­sung in un­mit­tel­ba­rer Nähe zur Syn­ago­ge war al­lein des­we­gen von gro­ßer Be­deu­tung, um am Schab­bat zu Fuß in die Syn­ago­ge gehen zu kön­nen. Das Gebet in der Syn­ago­ge be­stimm­te den All­tag von jü­di­schen Män­nern und Frau­en glei­cher­ma­ßen und doch auch un­ter­schied­lich. Wäh­rend sich from­me Män­ner wo­chen­tags täg­lich in der Syn­ago­ge zum Gebet tra­fen, fan­den sich jü­di­sche Frau­en am Schab­bat zu den Got­tes­diens­ten in der Syn­ago­ge neben den Män­nern ein. In den or­tho­do­xen Syn­ago­gen, wie in der Alten und Neuen Klaus-​Vereinigung Klaus: jü­di­sches Lehr­haus, Schu­le an der Pe­ter­stra­ße be­te­ten Frau­en ge­son­dert von den Män­nern. In der im 19. Jahr­hun­dert ge­grün­de­ten re­for­mier­ten Syn­ago­gen des Neuen Is­rae­li­ti­schen Tem­pel­ver­eins (1818) be­te­ten Frau­en und Män­ner zwar auch räum­lich ge­trennt von­ein­an­der, je­doch ohne den in or­tho­do­xen Ge­mein­den üb­li­chen Sicht­schutz.

Ob­wohl für Ham­burg keine Quel­le über­lie­fert ist, die Juden in ihrer Sied­lungs­frei­heit be­schränk­te, be­zeugt eine im Jahr 1773 an­ge­fer­tig­te Karte, dass sich das jü­di­sche Leben räum­lich auf ein paar Orte be­schränk­te. In der frü­hen Neu­zeit spiel­te sich jü­di­sches Woh­nen auf 13 Stra­ßen und einem Markt­platz in der Neu­stadt sowie auf drei Stra­ßen in der Alt­stadt ab. Die man­geln­de schrift­li­che Re­ge­lung sorg­te immer wie­der für Kon­flik­te zwi­schen Juden und Nicht­ju­den.


Wohn­ge­gend der jü­di­schen Be­völ­ke­rung in der Ham­bur­ger Neu­stadt, 1775
Quel­le: Alles be­gann mit Ans­gar. Ham­burgs Kir­chen im Spie­gel der Zeit. Eine Aus­stel­lung der Pres­se­stel­le des Se­nats der Frei­en und Han­se­stadt Ham­burg, Ham­burg 2006, S. 52, Wi­ki­me­dia Com­mons, ge­mein­frei.


In Al­to­na leb­ten Juden in der frü­hen Neu­zeit kei­nes­wegs iso­liert von ihren nicht­jü­di­schen Nach­barn. Juden und Nicht­ju­den wohn­ten Tür an Tür, sie hat­ten in­ten­si­ve und ex­ten­si­ve Kon­tak­te und mach­ten Ge­schäf­te mit­ein­an­der oder pfleg­ten Ge­schäfts­part­ner­schaf­ten. Manch­mal teil­ten sich Juden und Chris­ten sogar ein Wohn- und Ge­schäfts­haus. Die ge­mein­sa­me Nut­zung von Wohn- und Ge­schäfts­räu­men er­for­der­te von bei­den Sei­ten ein hohes Maß an Aus­hand­lungs­be­reit­schaft. Bei­spiels­wei­se muss­ten die Ge­schäfts­part­ner ver­han­deln, wie am Schab­bat bzw. am Sonn­tag der Zu­gang zu den Ge­schäfts­räu­men für den je­weils An­ders­gläu­bi­gen ge­re­gelt wurde. So er­mög­lich­te bei­spiels­wei­se dem christ­li­chen Ge­schäfts­part­ner am Schab­bat ein ab­ge­trenn­ter Ein­gang Ein­lass zu den Wirt­schafts­räu­men. Aus Al­to­na ist auch ein Fall über­lie­fert, bei der ein jü­di­scher Kauf­mann den Ge­mein­de­rab­bi­ner Eze­chi­el Kat­zen­el­len­bo­gen um Er­laub­nis bat, seine Lein­we­be­rei, die er zu­sam­men mit einem Chris­ten be­trieb, auch am Schab­bat für die christ­li­che Kund­schaft öff­nen zu dür­fen.

Der Be­reich des Wirt­schaf­tens bot – wie kaum ein an­de­rer – Be­rüh­rungs­punk­te mit der nicht­jü­di­schen Um­welt. Tra­di­tio­nell kamen jü­di­sche Män­ner durch ihre Ge­schäfts­tä­tig­keit in ihrem All­tag häu­fi­ger in Kon­takt mit Nicht­ju­den als Frau­en. Zu den Be­geg­nungs­or­ten mit Nicht­ju­den zähl­ten Stra­ßen, der Markt­platz, aber auch das Wirts­haus. In Ham­burg wie an­dern­orts zähl­te das Wirts­haus zu den be­vor­zug­ten Plät­zen, um Ge­schäf­te ab­zu­schlie­ßen. Eines die­ser Wirts­häu­ser war die Schif­fer­ge­sell­schaft in Ham­burg, dort kamen jü­di­sche und nicht­jü­di­sche Kauf­leu­te zu­sam­men, tran­ken ge­mein­sam und mach­ten Ge­schäf­te.


Die so­ge­nann­te Ju­den­bör­se in der Elb­stra­ße in der Ham­bur­ger Neu­stadt, Fried­rich Strum­per († 1913), 1901
Quel­le: Otto Ben­der, Die Ham­bur­ger Neu­stadt: 1878-1986. Stadt­an­sich­ten einer Pho­to­gra­phen­fa­mi­lie, Ham­burg 1986, S. 26-27, Wi­ki­me­dia Com­mons, ge­mein­frei.


Dass Juden und Chris­ten Wohn­räu­me durch­aus ge­mein­sam nutz­ten, geht aus Be­rich­ten des Al­to­na­er Rab­bi­ners Jakob Emden her­vor. Er be­rich­tet, dass Häu­ser beim Ver­kauf von einem christ­li­chen zu einem jü­di­schen Ei­gen­tü­mer und um­ge­kehrt wech­seln konn­ten. So wis­sen wir von Jakob Emden, dass er ein Haus von einem Nicht­ju­den er­warb. Die kom­mu­na­len Be­hör­den be­zeich­ne­ten diese von Juden be­wohn­ten oder er­wor­be­nen Häu­ser als „Ju­den­häu­ser“. Äu­ßer­lich un­ter­schie­den sich die jü­di­schen Häu­ser von den christ­li­chen durch eine am Tür­rah­men an­ge­brach­te Me­susa. An jü­di­schen Fei­er­ta­gen waren Häu­ser oben­drein durch Ri­tu­al­ge­gen­stän­de als jü­disch er­kenn­bar. Bei­spiels­wei­se kenn­zeich­ne­te am Laub­hüt­ten­fest eine Suk­kah ein Haus als ein jü­di­sches. Im In­ne­ren der Häu­ser ver­wie­sen re­li­giö­se Ri­tu­al­ge­gen­stän­de, wie Me­noroth und Cha­nukka­leuch­ter Leuch­ter mit neun oder acht Armen, der an­läss­lich des Chanukka-​Festes ge­nutzt wird., sowie eine ko­scher ge­führ­te Küche auf den jü­di­schen Ritus. In grö­ße­ren Häu­sern zähl­ten sogar Ge­bets­räu­me und in Aus­nah­me­fäl­len eine Syn­ago­ge zur Woh­nungs­aus­stat­tung, so wie im Haus von Jakob Emden in Al­to­na.

An­ders als in Frank­furt am Main, wo die jü­di­sche Be­völ­ke­rung bis ins 19. Jahr­hun­dert auf sehr klei­nem Raum zu­sam­men­ge­pfercht in einem Getto lebte, ge­stal­te­te sich die Wohn­si­tua­ti­on im früh­neu­zeit­li­chen Al­to­na ver­gleichs­wei­se ent­spannt. Die Wohn­häu­ser waren – wie für Händ­ler­fa­mi­li­en ty­pisch – nicht nur pri­vat, son­dern auch öf­fent­lich und damit Teil des Wirt­schaf­tens. In den Wohn­räu­men ver­schwam­men nicht nur die Gren­zen zwi­schen Familien-​ und Ge­schäfts­le­ben, sie be­her­berg­ten gleich­zei­tig eine Viel­zahl von Fa­mi­li­en­mit­glie­dern und nah­men damit auch eine wich­ti­ge so­zia­le Funk­ti­on ein. Wit­wen wohn­ten meist im Haus­halt ihrer ver­hei­ra­te­ten Kin­der, un­ver­hei­ra­te­te Ge­schwis­ter im Haus­halt der ver­hei­ra­te­ten Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Sol­che Häu­ser boten dabei nicht nur Raum für meh­re­re Ge­nera­tio­nen der be­sit­zen­den Fa­mi­lie, son­dern auch für Dienst­per­so­nal, das bei ihnen im Haus un­ter­kam.

Au­ßer­dem war das jü­di­sche Fa­mi­li­en­le­ben in Ham­burg, Al­to­na und Wands­bek stets von Be­we­gung, Zuzug und der Auf­nah­me neuer Ge­mein­de­mit­glie­der aus an­de­ren eu­ro­päi­schen Re­gio­nen ge­kenn­zeich­net. Dies be­gann be­reits mit der An­sied­lung der Se­far­den im spä­ten 16. Jahr­hun­dert. Sie wi­chen in ihrem Ha­bi­tus und in ihrer re­li­giö­sen Pra­xis stark von der asch­ke­na­si­schen Ge­mein­de ab. Im All­tag drück­ten sich die Un­ter­schie­de in einer an­de­ren Alltags-​ und Fa­mi­li­en­spra­che aus. Wäh­rend in den se­far­di­schen Fa­mi­li­en auf Por­tu­gie­sisch und (in we­ni­gen) auf Spa­nisch kom­mu­ni­ziert wurde, wurde in den asch­ke­na­si­schen Fa­mi­li­en (Platt-​)Deutsch und Jid­disch ge­spro­chen. Neben den se­far­di­schen Zu­züg­lern ge­hör­ten ost­eu­ro­päi­sche Juden zu den in Ham­burg nach Schutz su­chen­den Juden, wie Glikl van Ha­meln be­rich­tet. Ihre Fa­mi­lie hatte „für meh­re­re Wo­chen aus Polen stam­men­de Juden, die nach Ham­burg ge­flo­hen und krank waren, in ihrem Haus auf­ge­nom­men und ge­pflegt“ .

Ausbruch aus alten Strukturen: rechtliche Gleichstellung und Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert


Mit der recht­li­che Gleich­stel­lung der Ham­bur­ger Juden im Jahr 1861 ver­än­der­ten sich der jü­di­sche All­tag und das Fa­mi­li­en­le­ben dras­tisch. Zu­nächst ist im Zuge der Eman­zi­pa­ti­on eine Auf­lö­sung der tra­di­tio­nel­len jü­di­schen Wohn­vier­tel im 19. Jahr­hun­dert zu be­ob­ach­ten. In Ham­burg ent­stan­den zwi­schen 1870 und 1930 neue bür­ger­li­che Wohn­vier­tel mit einen hohen An­teil an jü­di­schen Bür­gern. In Har­ve­ste­hu­de und in Ro­ther­baum leb­ten um die Jahr­hun­dert­wen­de un­ge­fähr 40 Pro­zent der Ham­bur­ger Juden, die zu gro­ßen Tei­len dem sä­ku­la­ren oder li­be­ra­len Ju­den­tum an­ge­hör­ten. In der Ver­schie­bung des Wohn­raums in die bür­ger­li­chen Stadt­vier­tel spie­gelt sich der so­zia­le und wirt­schaft­li­che Auf­stieg der Ham­bur­ger Juden im 19. Jahr­hun­dert wider. Das or­tho­do­xe Ju­den­tum blieb über­wie­gend im Grin­del und in der Neu­stadt woh­nen und ver­harr­te im Klein­han­del. Dort mach­ten Juden noch im Jahr 1925 15 Pro­zent der Ein­woh­ner aus. Die jüdisch-​orthodoxe Be­völ­ke­rung im Grin­del pfleg­te eine an­de­re re­li­giö­se Pra­xis und einen an­de­ren Le­bens­stil als die jüdisch-​säkulare Be­völ­ke­rung in den eher bür­ger­li­chen Wohn­vier­teln, wie in Ro­ther­baum und Ha­veste­hu­de. Bei­spiels­wei­se waren im Grin­del noch in den 1920er-​Jahren äu­ßer­lich Häu­ser als jü­di­sche er­kenn­bar.

Familienstrukturen zwischen Tradition und Wandel


Im Zuge der Mo­der­ne bra­chen tra­di­tio­nel­le Fa­mi­li­en­struk­tu­ren auf, nach denen sich der jü­di­sche Fa­mi­li­en­all­tag für Män­ner und Frau­en un­ter­schied­lich ge­stal­te­te. Dies än­dert sich im Laufe des 19. Jahr­hun­derts mit dem Wan­del der Rolle der Frau in Ge­sell­schaft und Fa­mi­lie. Nach der jü­di­schen Tra­di­ti­on ist die Frau al­lei­ne für den Haus­halt ver­ant­wort­lich, wozu in ers­ter Linie die Füh­rung der ko­sche­ren Küche und die Ge­stal­tung der re­li­giö­sen Fei­er­ta­ge ge­hört.


Grup­pen­auf­nah­me der Fa­mi­lie Ascher, 19. Jahr­hun­dert
Quel­le: Bild­da­ten­bank des In­sti­tuts für die Ge­schich­te der deut­schen Juden, PER00155, Lock-​Material, Film F Album Lie­beschütz.


Wäh­rend das Dienst­per­so­nal vor der Eman­zi­pa­ti­on stets jü­disch war, be­schäf­tig­ten zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts selbst or­tho­do­xe Fa­mi­li­en Nicht­ju­den in ihrem Haus­halt.

Mit der Sä­ku­la­ri­sie­rung und Ver­bür­ger­li­chung bot sich für Juden und Jü­din­nen gleich­zei­tig die Mög­lich­keit, stär­ker an der au­ßer­jü­di­schen Welt teil­zu­neh­men und aus dem jüdisch-​orthodoxen Mi­lieu aus­zu­bre­chen. Dies macht sich bei­spiels­wei­se an der regen Teil­nah­me von Juden an dem auf­stre­ben­den Ver­eins­we­sen be­merk­bar. Damit ver­schwan­den zu­neh­mend die Un­ter­schie­de zwi­schen der jü­di­schen Be­völ­ke­rung und der nicht­jü­di­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft.

Den­noch wich die jü­di­sche Be­völ­ke­rung – wie für Min­der­hei­ten ty­pisch – in ihren so­zia­len und kul­tu­rel­len Merk­ma­len von der christ­li­chen Mehr­heits­be­völ­ke­rung ab, wie an­hand der Be­trach­tung der Ge­bur­ten­ra­te der Ham­bur­ger Juden deut­lich wird. In den Jah­ren 1901 und 1902 kamen auf 1.000 jü­di­sche Ham­bur­ger 16,2 Ge­bur­ten, wäh­rend es bei den Pro­tes­tan­ten 24,1 und im Reichs­durch­schnitt 36,5 Ge­bur­ten waren. In der ver­gleichs­wei­se nied­ri­gen Ge­bur­ten­ra­te zwi­schen der Ham­bur­ger jü­di­schen Be­völ­ke­rung und dem Reichs­durch­schnitt spie­gelt sich vor­der­grün­dig der Un­ter­schied zwi­schen Stadt und Land wider. Gleich­zei­tig nahm die Ge­bur­ten­ra­te der jü­di­schen Be­völ­ke­rung frü­her ab als die der nicht­jü­di­schen Be­völ­ke­rung. Diese Ent­wick­lung ver­weist auf den Grad der Ver­bür­ger­li­chung und den Grad der Bil­dung der jü­di­schen Be­völ­ke­rung. Im All­ge­mei­nen sank im Ham­burg des frü­hen 20. Jahr­hun­derts mit dem Grad der Bil­dung und der wirt­schaft­li­chen Pro­spe­ri­tät die Ge­bur­ten­ra­te. Den Grad des Wohl­stands der jü­di­schen Stadt­be­völ­ke­rung drückt auch die im Ver­gleich zur Ge­samt­be­völ­ke­rung ge­rin­ge­re Sterb­lich­keits­ra­te aus, die bei der jü­di­schen Be­völ­ke­rung bei 10,7 Pro­zent und bei der Ham­bur­ger Ge­samt­be­völ­ke­rung bei 16,2 Pro­zent lag.

Trotz all der gro­ßen Ver­än­de­run­gen, waren die meis­ten jü­di­schen Ehen bis weit ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein ar­ran­giert, in or­tho­do­xen Fa­mi­li­en dau­er­te diese Tra­di­ti­on noch lange da­nach an. Die Fa­mi­lie stell­te die Wei­ter­ga­be der jü­di­schen Tra­di­ti­on si­cher. Dabei be­ein­fluss­te die Zu­ge­hö­rig­keit zum Ju­den­tum sowie der Sta­tus der Her­kunfts­fa­mi­lie und die Höhe der Mit­gift die Wahl des Ehe­part­ners. Nach dem jü­di­schen Ritus wurde die Höhe der Mit­gift in der Kettu­bah (Hei­rats­ver­trag) fest­ge­hal­ten. Mit der Wahl des Ehe­part­ners soll­te der Fort­be­stand der jü­di­schen Tra­di­ti­on be­wahrt wer­den, was für eine Min­der­heit es­sen­ti­ell ist. Damit soll­te aber auch die er­reich­te wirt­schaft­li­che Pro­spe­ri­tät der Her­kunfts­fa­mi­lie si­cher­ge­stellt wer­den. Dabei setz­ten vor allem be­gü­ter­te Fa­mi­li­en auf ar­ran­gier­te Ehen. In we­ni­ger wohl­ha­ben­de­ren Fa­mi­li­en muss­ten junge Leute die Hei­rat häu­fig zu­rück­stel­len, bis sie eine Tä­tig­keit ge­fun­den hat­ten, mit der der Le­bens­un­ter­halt be­strit­ten wer­den konn­te.

Mit dem Ein­zug der Mo­der­ne im 19. Jahr­hun­dert brach die star­re Tren­nung zwi­schen den se­far­di­schen und asch­ke­na­si­schen Ge­mein­de­mit­glie­dern auf. Dies macht sich vor allem in einer stei­gen­den Zahl an Ehe­schlie­ßun­gen zwi­schen Se­far­den und Asch­ke­na­sen seit der Mitte des 19. Jahr­hun­derts be­merk­bar.

Aber auch die Gren­zen zwi­schen der jü­di­schen und christ­li­chen Be­völ­ke­rung ver­schwam­men zu­neh­mend. Zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts wähl­ten in den deut­schen Groß­städ­ten immer mehr Juden einen nicht­jü­di­schen Ehe­part­ner. Im Jahr 1866, kurz nach der Er­lan­gung der bür­ger­li­chen Rech­te in Ham­burg, gaben 13,1 Pro­zent aller jü­di­schen Bräu­te und Bräu­ti­ga­me einem nicht­jü­di­schen Ehe­part­ner das Ja­wort. Im Jahr 1928 war diese Zahl be­reits auf 35,58 Pro­zent an­ge­stie­gen. Bei der An­zahl an jüdisch-​christlichen Ehen nahm Ham­burg deutsch­land­weit die Spit­zen­po­si­ti­on ein und über­traf damit sogar Ber­lin, die Stadt mit der größ­ten jü­di­schen Ge­mein­de in der Wei­ma­rer Re­pu­blik.

Ein Ne­ben­ef­fekt die­ser Ent­wick­lung war der Rück­gang der jü­di­schen Ge­mein­de­mit­glie­der in Ham­burg. Mehr als die Hälf­te der Kin­der, die in den Jah­ren zwi­schen 1885 und 1910 in eine jüdisch-​christliche Ehe hin­ein ge­bo­ren wur­den, wurde ge­tauft und war somit kein Mit­glied der jü­di­schen Ge­mein­de mehr. Be­trug der jü­di­sche Be­völ­ke­rungs­an­teil an der Ham­bur­ger Ge­samt­be­völ­ke­rung im Jahr 1871 4,1 Pro­zent, lag er 39 Jahre spä­ter, im Jahr 1910, nur noch bei 1,9 Pro­zent. Nicht immer stieß die Wahl eines nicht­jü­di­schen Ehe­part­ners auf die Zu­stim­mung der El­tern, ins­be­son­de­re in or­tho­do­xen Fa­mi­li­en war die Wahl eines nicht­jü­di­schen Ehe­part­ners kei­nes­falls er­wünscht.

Die ver­schwin­den­den Gren­zen zwi­schen Juden und Nicht­ju­den stieß auch auf nicht­jü­di­scher Seite glei­cher­ma­ßen auf Ak­zep­tanz und Ab­leh­nung. Die Jahre der In­te­gra­ti­on und ge­sell­schaft­li­chen Teil­nah­me waren stets auch von an­ti­se­mi­ti­schen Agi­ta­tio­nen be­glei­tet. Die Fa­mi­lie bot Schutz vor dem An­ti­se­mi­tis­mus der nicht­jü­di­schen Um­welt, der den Pro­zess der Ver­bür­ger­li­chung be­glei­te­te.

Alltag im Nationalsozialismus


Mit der Macht­über­nah­me der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ver­än­der­te sich schlag­ar­tig das Alltags-​ und Fa­mi­li­en­le­ben der Juden in Ham­burg.


Grup­pen­auf­nah­me der Fa­mi­lie Car­le­bach, Mut­ter Lotte Car­le­bach mit neun Kin­dern, vor dem Krieg
Quel­le: Yad Vashem, Foto Ar­chiv 1869/243, mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung von Prof. Mi­ri­am Gilis Car­le­bach.


Der jü­di­sche Fa­mi­li­en­all­tag war fort­an von einem per­ma­nen­ten Aus­nah­me­zu­stand ge­prägt. Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Po­li­tik in den Vor­kriegs­jah­ren ziel­te auf die ge­sell­schaft­li­che und wirt­schaft­li­che Aus­gren­zung der Juden. Juden war es fort­an nur noch unter In­kauf­nah­me von An­fein­dun­gen und der Ge­fahr von kör­per­li­chen Über­grif­fen mög­lich, am ge­sell­schaft­li­chen Leben teil­zu­neh­men. Die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen an­ti­se­mi­ti­schen Ge­set­ze schnit­ten gra­vie­rend in das jü­di­sche All­tags­le­ben ein. Das be­reits im April 1933 er­las­se­ne reichs­wei­te Schächt­ver­bot be­deu­te­te für die jü­di­sche Ge­mein­de eine Ein­schrän­kung ihrer Re­li­gi­ons­aus­übung und zu­gleich ihrer Er­näh­rungs­ge­wohn­hei­ten. Woll­ten Juden die re­li­giö­sen Spei­se­vor­schrif­ten wei­ter­hin ein­hal­ten, muss­ten sie ent­we­der gänz­lich auf Fleisch ver­zich­ten oder im­por­tier­tes ko­sche­res Fleisch aus dem Aus­land teuer er­wer­ben. In Ham­burg re­agier­te die jü­di­sche Ge­mein­de auf das Schächt­ver­bot mit der Ein­la­ge­rung von ko­sche­rem Fleisch in ein Kühl­haus und dem Im­port von ge­schäch­te­tem Fleisch aus Dä­ne­mark. Im Is­rae­li­ti­schen Kran­ken­haus be­geg­ne­te der Rab­bi­ner dem Man­gel an ge­schäch­te­tem Fleisch, in dem er den Pa­ti­en­ten die Er­laub­nis er­teil­te, alles – außer Schwei­ne­fleisch – essen zu dür­fen.

Be­reits im Som­mer 1933 wur­den Juden aus nicht­jü­di­schen Ver­ei­nen, Stif­tun­gen, Schu­len und an­de­ren ge­sell­schaft­li­chen Be­rei­chen aus­ge­schlos­sen. Damit en­de­te das Ka­pi­tel der viel­fäl­ti­gen Teil­nah­me von Juden an zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Or­ga­ni­sa­tio­nen in Ham­burg. Die NS-​Machthaber be­ab­sich­tig­ten mit ihrer Po­li­tik, die jü­di­sche Be­völ­ke­rung mit­tels so­zia­ler Aus­gren­zung und wirt­schaft­li­cher Boy­kot­tie­rung außer Lan­des zu trei­ben. Der wirt­schaft­li­che Boy­kott und zahl­rei­che Be­rufs­ver­bo­te („Arier­pa­ra­graf“) führ­ten zur schlei­chen­den Ver­ar­mung der jü­di­schen Be­völ­ke­rung. Unter dem ge­sell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Druck zer­ris­sen viele jü­di­sche Fa­mi­li­en. In Ham­burg, einer Stadt mit einer be­son­ders hohen An­zahl an jüdisch-​christlichen Ehen, lös­ten die ras­sis­ti­schen Nürn­ber­ger Ge­set­ze im Sep­tem­ber 1935 in die­sen Fa­mi­li­en wahre Tra­gö­di­en aus. Das NS-​Regime übte mas­si­ven so­zia­len und wirt­schaft­li­chen Druck auf den christ­li­chen Ehe­part­ner aus, sich von dem jü­di­schen Part­ner schei­den zu las­sen. An­de­rer­seits boten Fa­mi­li­en aber auch wei­ter­hin einen Schutz-​ und Rück­zugs­raum vor der ste­tig an­stei­gen­den Ver­fol­gung.

Wäh­rend ins­be­son­de­re die jün­ge­re Ge­nera­ti­on Zu­flucht im Aus­land such­te, blie­ben die äl­te­ren Fa­mi­li­en­mit­glie­der den Ver­fol­gern schutz­los aus­ge­lie­fert in Ham­burg zu­rück. Ins­ge­samt konn­ten sich zwi­schen 1933 und 1941 zwi­schen zehn- und zwölf­tau­send Juden aus Ham­burg ins si­che­re Aus­land ret­ten. Unter ihnen waren rund ein­tau­send Kin­der, die mit Kin­der­trans­por­ten nach Eng­land ent­ka­men.

Wäh­rend viele Ham­bur­ger Juden ver­zwei­felt Schutz im Aus­land such­ten, wurde Ham­burg selbst vor­über­ge­hend zum Zu­fluchts­ort von Juden aus an­de­ren deut­schen Re­gio­nen, die die An­ony­mi­tät der Groß­stadt such­ten. Jü­di­sche Flücht­lin­ge, die auf Durch­rei­se in Ham­burg waren, konn­ten dabei aber nur unter gro­ßen Schwie­rig­kei­ten eine Un­ter­kunft in einem Hotel fin­den. Nicht we­ni­ge pri­vat­wirt­schaft­li­che Ho­tels ver­schärf­ten die Si­tua­ti­on für die jü­di­schen Flücht­lin­ge. Aus Me­moi­ren ist über­lie­fert, dass ein Hotel in der Nähe des Bahn­hofs einem jü­di­schen Ehe­paar ver­bot, im Re­stau­rant des Ho­tels zu essen. Sie muss­ten ihr Essen auf dem Zim­mer ein­neh­men. An­de­re Ho­tels in Ham­burg ge­währ­ten jü­di­schen Gäs­ten keine Zim­mer mehr. Re­stau­rants boten jü­di­schen Gäs­ten kei­nen Ser­vice mehr an.

Nach­dem jü­di­sche Mie­ter im April 1939 jeg­li­chen Miet­schutz ver­lo­ren und jü­di­sche Ei­gen­tü­mer nach dem No­vem­ber­po­grom 1938 ihres Ei­gen­tum be­raubt wur­den, stand für die in Ham­burg ver­blie­be­nen Juden immer we­ni­ger Wohn­raum zur Ver­fü­gung. Viele Häu­ser, die seit meh­re­ren Ge­nera­tio­nen hin­weg im Be­sitz von nur einer jü­di­schen Fa­mi­lie ge­we­sen waren, wur­den nach dem No­vem­ber­po­grom zwangs­ent­eig­net. Da­durch en­de­te die Tra­di­ti­on von lang eta­blier­ten jü­di­schen Wohn­vier­teln in Ham­burg. Im Jahr 1941 ent­ris­sen die na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­ha­ber Juden den letz­ten pri­va­ten Raum und zwan­gen sie, in „Ju­den­häu­ser“ zu zie­hen. Die Wohn­si­tua­ti­on für die in Ham­burg ver­blie­be­nen Juden ver­schärf­te sich noch ein­mal nach Aus­bruch des Krie­ges und ganz be­son­ders wäh­rend der Bom­bar­die­run­gen der bri­ti­schen Luft­waf­fe. Als im Som­mer 1943 durch die Luft­an­grif­fe in Ham­burg viel Wohn­raum zer­stört wurde, muss­ten 400 Zim­mer von jü­di­schen Mie­tern ge­räumt wer­den, um sie für Nicht­ju­den zur Ver­fü­gung zu stel­len. Die ver­trie­be­nen jü­di­schen Mie­ter soll­ten nörd­lich und west­lich des Grin­del­vier­tels kon­zen­triert wer­den.

In die­ser Si­tua­ti­on der ge­sell­schaft­li­chen Iso­lie­rung und Ver­fol­gung ge­wann die jü­di­sche Ge­mein­de als ge­sell­schaft­li­cher Mit­tel­punkt an neuer Be­deu­tung. Sie war fort­an nicht nur Zen­trum für das re­li­giö­se Leben, son­dern bot Ver­sor­gungs­ein­rich­tun­gen an, die die Not mil­dern soll­ten. Dazu zähl­te bis Ende No­vem­ber 1941 die Es­sens­aus­ga­be an be­dürf­ti­ge Ge­mein­de­mit­glie­der im Heim In­no­cen­tia­stra­ße und ab 1941 in der Volks­kü­che in der Schä­fer­kamp­sal­lee 27. Neben der Es­sens­aus­ga­be bot der Kul­tur­bund im Ge­mein­schafts­haus in der Har­tung­stra­ße 9 Un­ter­hal­tungs­mög­lich­kei­ten für die Ver­folg­ten an.

Hat­ten im Jahr 1933 noch 16.963 Juden in Ham­burg ge­lebt (1925: ca. 20.000), so war die jü­di­sche Ge­mein­de im Ok­to­ber 1941 be­reits auf 7.547 Mit­glie­der ge­schrumpft. Zu die­sem Zeit­punkt exis­tier­ten in Ham­burg noch 1.036 in­ter­kon­fes­sio­nel­le Ehen, die den jü­di­schen Ehe­part­nern vor­läu­fig Schutz vor den De­por­ta­tio­nen boten. Wenn der nicht­jü­di­sche Part­ner sich je­doch schei­den ließ, so droh­te dem jü­di­schen Part­ner die De­por­ta­ti­on in ein Ver­nich­tungs­la­ger. Ins­ge­samt wur­den zwi­schen Ok­to­ber 1941 und Fe­bru­ar 1945 5.848 Juden von Ham­burg in die Ver­nich­tungs­la­ger im be­setz­ten Polen ver­schleppt. Bis­her sind 8.887 Ham­bur­ger Juden na­ment­lich be­kannt, die im Ho­lo­caust er­mor­det wur­den. Die Ge­samt­zahl der Ham­bur­ger Opfer wird auf 10.000 ge­schätzt.

Nach 1945: Weiterleben


Un­mit­tel­bar nach Kriegs­en­de, am 8. Juli 1945, ver­sam­mel­ten sich zwölf Über­le­ben­de , um eine neue jü­di­sche Ge­mein­de in Ham­burg zu grün­den, der zu­nächst 80 Ge­mein­de­mit­glie­der an­ge­hör­ten. Im Ok­to­ber 1945, ver­ab­schie­de­te der neu­ge­grün­de­te Vor­stand eine Sat­zung, die mit der Ham­bur­ger Tra­di­ti­on der drei ver­schie­de­nen Kul­tus­ver­bän­de brach und eine Ein­heits­ge­mein­de mit einem ge­mä­ßigt or­tho­do­xen Kul­tus ins Leben rief. Die neu ge­grün­de­te Ein­heits­ge­mein­de ver­folg­te zu­nächst das Ziel, den Über­le­ben­den eine re­li­giö­se „Hei­mat“ zu geben, aber vor allem auch Hil­fe­stel­lun­gen bei den An­sprü­chen auf Rückerstattungs-​ und Ent­schä­di­gungs­leis­tun­gen zu bie­ten. Die grund­sätz­li­che Frage, ob im „Land der Täter“ wie­der jü­di­sches Leben auf­ge­baut und ver­an­kert wer­den solle, stand zu­nächst hin­ter dring­li­chen All­tags­fra­gen zu­rück. Als die Ein­heits­ge­mein­de im Jahr 1948 den Sta­tus einer Kör­per­schaft des öf­fent­li­chen Rechts er­hielt, ver­lor sie ihren pro­vi­so­ri­schen Cha­rak­ter. Sie übte fort­an die tra­di­tio­nel­len Ge­mein­de­auf­ga­ben aus – Kul­tus, Be­er­di­gungs­we­sen, Für­sor­ge und Re­li­gi­ons­er­zie­hung.

Neben den jü­di­schen Ge­mein­de­mit­glie­dern be­fan­den sich nach Kriegs­en­de auch jü­di­sche DPs im Ham­bur­ger Raum. Diese stamm­ten zu­meist aus Ost­eu­ro­pa und hat­ten die Ver­bre­chen der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ge­walt­herr­schaft über­lebt, unter ihnen be­fand sich eine große An­zahl Min­der­jäh­ri­ger. Ins­ge­samt zähl­te die Bri­ti­sche Mi­li­tär­re­gie­rung im Juni 1946 206 jü­di­sche DPs im Alter von 18 bis 46 Jah­ren im Ham­bur­ger Raum. An­ders als für die deut­schen Juden waren nicht die deut­schen Be­hör­den, son­dern die Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on der Ver­ein­ten Na­tio­nen, die United Na­ti­ons Re­li­ef and Re­ha­bi­li­ta­ti­on Ad­mi­nis­tra­ti­on (UNRRA), für die DPs zu­stän­dig. Dies zeig­te sich in deut­lich un­ter­schied­li­chen Sozial-​ und Hil­fe­leis­tun­gen für deut­sche und nicht­deut­sche Juden. Bei­spiels­wei­se stan­den den deut­schen Juden nach dem Krieg deut­lich ge­rin­ge­re Le­bens­mit­tel­ra­tio­nen als den jü­di­schen DPs zu.

Die Er­laub­nis zum ri­tu­el­len Schlach­ten im Jahr 1947 er­mög­lich­te nun auch wie­der eine or­tho­do­xe Le­bens­füh­rung. Ein wei­te­rer Mei­len­stein bei der Neu­ver­an­ke­rung jü­di­schen Le­bens im Nachkriegs-​Ham­burg war die Er­öff­nung der neuen Syn­ago­ge am 4.9.1960 an der Hohen Weide. Um die re­li­giö­se Er­zie­hung der Kin­der si­cher­zu­stel­len, grün­de­te die jü­di­sche Ge­mein­de in den 1960er-​Jahren einen Kin­der­gar­ten und bot dar­über hin­aus zahl­rei­che Ak­ti­vi­tä­ten für Kin­der und Ju­gend­li­che an.


Kin­der im Jü­di­schen Kin­der­gar­ten, Ham­burg, 1960er-​Jahre
Quel­le: Bild­da­ten­bank des In­sti­tuts für die Ge­schich­te der deut­schen Juden, NEU00001a, Jü­di­sche Ge­mein­de Ham­burg, Album Nr.4.

Im An­be­tracht der star­ken Über­al­te­rung der Ge­mein­de­mit­glie­der hatte die Kinder-​ und Ju­gend­für­sor­ge eine ganz be­son­de­re Be­deu­tung. Al­ler­dings muss­te der jü­di­sche Kin­der­gar­ten man­gels Nach­fra­ge im Jahr 1979 be­reits wie­der ge­schlos­sen wer­den.

Mit dem Fall des Ei­ser­nen Vor­hangs 1989/90 ver­än­der­te sich aber­mals der Cha­rak­ter der jü­di­schen Ge­mein­de in Ham­burg. Seit 1989 kamen meh­re­re tau­send Juden aus der ehe­ma­li­gen So­wjet­uni­on nach Ham­burg und brach­ten zahl­rei­che Neue­run­gen für das jü­di­sche Alltags-​ und Fa­mi­li­en­le­ben mit sich. Ihnen war der jü­di­sche Ritus in der So­wjet­uni­on fremd ge­wor­den, den­noch be­tei­lig­ten sie sich rege an den Ge­mein­de­tä­tig­kei­ten, vor allem aber an den Kultur-​ und Frei­zeit­pro­gram­men, we­ni­ger je­doch an re­li­giö­sen Fes­ten oder Got­tes­diens­ten. Damit wurde die Ham­bur­ger jü­di­sche Ge­mein­de auch um eine wei­te­re Sprach­grup­pe er­wei­tert. Das Rund­schrei­ben der jü­di­schen Ge­mein­de er­scheint seit­her auf Deutsch und Rus­sisch, um beide Sprach­grup­pen glei­cher­ma­ßen zu er­rei­chen.

Kenn­zeich­nend für das jü­di­sche All­tags­le­ben nach 1990 ist au­ßer­dem eine grö­ße­re re­li­giö­se Viel­falt. Neben der Ein­heits­ge­mein­de grün­de­ten sich nach und nach meh­re­re re­li­giö­se Ver­ei­ni­gun­gen, dazu zählt die Cha­bad Lubawitsch (2004), eben­so wie die Ke­hil­at Beit Shira – Jü­di­sche Ma­sor­ti Ge­mein­de Ham­burg e. V. (2009). Nach­dem im Jahr 2002 das Grund­stück der Tal­mud Tora Schu­le nach jah­re­lan­gen Ver­hand­lun­gen an die jü­di­sche Ge­mein­de rück­über­tra­gen wurde, konn­te dort an die Tra­di­ti­on der Ver­bin­dung von jü­di­scher Re­li­gi­ons­er­zie­hung und sä­ku­la­rer Bil­dung an­ge­knüpft wer­den. Mit der Neu­grün­dung der Joseph-​Carlebach-Schule am Grin­del­hof im Jahr 2002 war es jü­di­schen El­tern mög­lich ihre Kin­der wie­der auf eine jü­di­sche Schu­le zu schi­cken.

Das jü­di­sche Familien-​ und All­tags­le­ben in Ham­burg durch­lief seit der frü­hen Neu­zeit einen mas­si­ven Wan­del und weist den­noch eine Kon­stan­te auf: die Mi­gra­ti­on und die In­te­gra­ti­on von Juden aus an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern. Die Zu­ge­zo­ge­nen be­rei­cher­ten den All­tag der Juden in Ham­burg über die Jahr­hun­der­te mit an­de­ren Riten und an­de­ren All­tags­spra­chen. Damit haben sie stets un­ter­schied­lich und doch maß­geb­lich das jü­di­sche Leben im Ham­bur­ger Raum ge­prägt und ge­stal­tet.

Auwahlbibliografie


Arno Herzig (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde), Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“, Hamburg 1991.
Marion Kaplan (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003.
Helga Krohn, Die Juden in Hamburg, Hamburg 1974.
Ina Lorenz / Jörg Berkemann (Hrsg.), Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Monografie und Dokumente, 7 Bde., Göttingen 2016.
Ina Lorenz (Hrsg.), Zerstörte Geschichte. Vierhundert Jahre Jüdisches Leben in Hamburg, Hamburg 2005.

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Zur Autorin

Stefanie Fischer (Thema: Familie und Alltag), Dr. phil., forscht am Zentrum für jüdische Studien Berlin-Brandenburg. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie die Beziehungen jüdischer Holocaustüberlebender zu ihren deutschen Heimatstätten in den 1950er und 1960er-Jahren. Ihre Dissertation schrieb sie über Zusammenhänge von ökonomischem Vertrauen und antisemitischer Gewalt am Beispiel deutsch-jüdischer Viehhändler zwischen 1919 und 1939.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Stefanie Fischer, Familie und Alltag, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-225.de.v1> [14.07.2025].

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