„Als es eben wirklich drauf ankam ...“ - Erinnerungen einer Tochter an ihre Mutter

Erika Hirsch

Quellenbeschreibung

Bei der vorgelegten Quelle handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem lebensgeschichtlichen Interview, das Steffi Wittenberg (1926-2015) am 5. und 8.1. sowie am 19.7.1995 für die Werkstatt der Erinnerung, dem Oral History Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, gegeben hat. Die 68- bzw. 69-jährige spricht darüber, wie ihre Mutter Margot Hammerschlag die Situation in der Emigration in Uruguay meisterte. Anwesend bei dem Interview war auch der Ehemann von Steffi Wittenberg, Kurt Wittenberg, der die Familie Hammerschlag aus seiner Jugend in der deutsch-jüdischen Community in Montevideo kannte. Seit ihrer gemeinsamen Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1951 lebte das Ehepaar in Hamburg.

Das Interview, geführt von Sybille Baumbach, hat eine Gesamtlänge von 245 Minuten und liegt als Audio und als Transkript vor. Es wird in der Werkstatt der Erinnerung mit weiteren Dokumenten wie etwa dem Heft, aus dem das Gedicht „Familie Hammerschlag“ stammt, bewahrt.

Steffi Wittenberg wuchs im Hamburger Stadtteil Harvestehude als Kind einer liberal-jüdischen Familie auf. Ihr Bruder Gerd war zweieinhalb Jahre älter. Erst mit Machtantritt der Nationalsozialisten gewann die Zugehörigkeit zum Judentum für die Familie an Bedeutung. Steffi Wittenberg selbst erfuhr frühe Diskriminierungen 1934 in der von ihr besuchten Jahnschule (heute Ida Ehre Schule). Wohl in Reaktion auf die „Nürnberger Rassengesetze“ schulten die Eltern sie im Herbst 1935 in die Israelitische Töchterschule um. Hier erlebte sie die sogenannte Polenaktion von Oktober 1938, die Schrecknisse des Novemberpogroms sowie die folgende Massenflucht aus Deutschland. Vater und Bruder waren zu der Zeit bereits in Uruguay. Steffi Wittenberg war in der 8. Klasse im Realschulzweig, als sie im Dezember 1939 mit ihrer Mutter den beiden folgte.

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Gefährtinnen


Bei Machtantritt der Nationalsozialisten hatte Steffi Wittenbergs Mutter sofort die Gefahr erkannt und sich umgehend auf eine langwierige Suche nach Fluchtmöglichkeiten gemacht. Sie bestach schließlich den uruguayischen Konsul, um Visa für die ganze Familie zu bekommen. Weil Margot Hammerschlag, „die Männer“ für am meisten gefährdet hielt, fuhren Vater und Bruder im Oktober 1938 voraus, sie befanden sich bereits außer Landes, als im November während des Pogroms jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt und dort misshandelt wurden. Steffi Wittenberg und ihre Mutter blieben zurück, um den Haushalt aufzulösen. Da jedoch die Bestechung des Konsuls bekannt wurde, erklärte die uruguayische Regierung ihre Visa für ungültig. In dieser dramatischen Situation wurden Steffi Wittenberg und ihre Mutter zu Gefährtinnen.

Bei Kriegsbeginn am 1.9.1939 verzweifelte Margot Hammerschlag und verlor die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft der Familie. Ihre Tochter übernahm den Part, den Mut der Mutter zu stärken, worüber Steffi Wittenberg an anderer Stelle des Interviews spricht. Aus zeitgenössischer Sicht gibt das knapp vier Monate zuvor von ihr zum Muttertag verfasste Gedicht „Familie Hammerschlag“ anschaulich Einblick in ihre Fähigkeit, Zuversicht zu vermitteln. Am achten Kriegstag legte sie – wohl zu ihrer eigenen Selbstvergewisserung – ein Heft an und versah es mit dem Schriftzug „Erinnerungen für Steffi Hammerschlag“, in das sie unter anderem das Gedicht eintrug.

Wenn Gedicht und Interviewauszug das Bild einer durch gegenseitiges Verständnis und Loyalität geprägten Beziehung zwischen Tochter und Mutter vermitteln, so gilt es das zu hinterfragen. Denn beide zogen aus ihrer jeweiligen Lebenserfahrung unterschiedliche Schlüsse und sahen sich außerstande, die der anderen zu akzeptieren.

Emigration und Rückkehr


Die Familie Hammerschlag hatte vor 1933 in gutsituierten Verhältnissen gelebt, der Vater war Mitinhaber eines Kommissionsgeschäftes für Lederwaren gewesen. In Montevideo ernährte sich die Familie zunächst mit dem Verkauf selbst angefertigter Pralinen. Später unterhielten die Eltern einen kleinen Weißwäscheladen. 1940 beschreibt Steffi Wittenberg die Mutter in ihren Gedichten als „so schön, so nett, wie auch schlau“, konstatiert, dass „manche Leute sogar Senorita zu dir sagen!“. Bei der Beziehung war zunächst auch in Uruguay eng. Als die Tochter sich im Alter von 21 Jahren dazu entschloss, ihrem künftigen Ehemann Kurt Wittenberg nach Houston / Texas zu folgen, unterstützte Margot Hammerschlag das Vorhaben, zögerlich zwar, aber gewillt, sich dem Lebensglück ihres Kindes nicht entgegenzustellen. Erste Risse in ihrer Beziehung zeigten sich, als Steffi und Kurt Wittenberg, engagiert in der Bürgerrechtsbewegung gegen die Diskriminierung von Schwarzen (Black and People of Color), öffentlichkeitswirksam in die politischen Mühlen antikommunistischer Hetze der McCarthy-Ära gezogen wurden. Als Steffi Wittenberg ihren Eltern schrieb, was geschah, antworteten diese, sie habe in ihrem Leben eine falsche Richtung eingeschlagen.

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wurde Steffi Wittenberg zusammen mit ihrem Mann in der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ aktiv. Sie wirkte auch in einem politischen Kabarett mit, engagierte sich später in der Chile-Solidarität und betreute chilenische Geflüchtete. Zu ihren Aktivitäten gehörte ebenfalls die Unterstützung von Familien politisch Verfolgter in Uruguay bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Insbesondere zwischen Mutter und Tochter mündeten über Jahrzehnte politische Themen bei Familienzusammenkünften in heftige Auseinandersetzungen. Aus der Sicht von Steffi Wittenberg war die Mutter nicht in der Lage, eigene Leiderfahrungen auf andere zu übertragen und daraus politische Solidarität abzuleiten. Margot Hammerschlag ihrerseits fehlte jedes Verständnis für die Bereitwilligkeit, mit der die Tochter sich – so wird sie es gesehen haben – gewissermaßen „kopfüber“ in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen stürzte, wo sie doch der fundamentalen Bedrohung durch die Nationalsozialisten entkommen ein ruhiges Leben hätte führen können.

Was ist politisch?


Als „Zeitzeugin“ über ihr Leben zu berichten, war Steffi Wittenberg, die davon ausging, ihr sei „eigentlich nie etwas Schlimmes passiert“, nicht leicht gefallen. Sie fand, dass andere mehr mitzuteilen hätten. Dazu gehörte, etwa ihre enge Freundin, die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, an deren Seite sie 1986 das Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik e.V. mit begründete. Was Steffi Wittenberg selbst erlebt hatte, erschien ihr vermutlich erst im Kontext der 1984 erfolgten Veröffentlichung des Buches von Ursula Randt über die Geschichte der Israelitischen Töchterschule als schildernswert. An dessen Erstellung hatte sie regen Anteil genommen.

Sie sprach zum ersten Mal über sich selbst im März 1984: Bei der 4. Hamburger Frauenwoche wurde eine Veranstaltung „Frauen kämpfen für die Befreiung – gestern und heute. Das Beispiel des antifaschistischen Widerstandes von Frauen in Nazideutschland und in Lateinamerika. Zeitzeuginnen berichten“ mit Referentinnen aus Hamburg, Chile und Uruguay angeboten. Steffi Wittenberg hatte zur Vorbereitungsgruppe gehört. In der den Berichten folgenden Diskussion stellte sie sich „als Kind jüdisch Verfolgter“ vor, die in Uruguay Zuflucht vor den Nationalsozialisten gefunden hatten und erzählte aus ihrem Erleben. Eine Verschriftlichung ihres Wortbeitrages wurde in eine Broschüre zu der Veranstaltung aufgenommen. Die Herausgeberinnen hoben eingangs die besondere Lage von Frauen hervor, die „immer auch für ihre Familie, ihre Kinder Sorge zu tragen haben“. VVN Bund der Antifaschisten (Hrsg.), Frauen kämpfen für die Befreiung – gestern und heute, Hamburg 1984, S. 2.Daran hätte Steffi Wittenberg in ihrem Beitrag anknüpfen können. Auch die Parole der Frauenbewegung, dass das „Private politisch sei“, hätte es nahegelegt, das damalige Handeln von Margot Hammerschlag in das Blickfeld zu rücken. Aber Steffi Wittenberg ließ die Initiative der Mutter für die Flucht unerwähnt. Warum? Vielleicht deshalb, weil das Thema „Widerstand“ im Mittelpunkt der Veranstaltung stand und der anders konnotiert war. Auch war ihr in schmerzlicher Erinnerung, wie die im September 1973 zu Besuch in Hamburg weilenden Eltern den Sturz der demokratisch gewählten Regierung von Salvador Allende in Chile begrüßt hatten, und – wie Steffi Wittenberg es ausdrückte – „nicht begriffen, dass jetzt der Faschismus kam, obwohl sie ihn doch selbst erlebt haben!“. Interview am 10.4.2014 (Jürgen Duenbostel, Eduardo Astorga).

Wenn Steffi Wittenberg in den nächsten Jahren als Zeitzeugin auftrat, sprach sie stets über ihre Mutter als treibende Kraft rechtzeitiger Flucht. Dabei betonte sie, dass Margot Hammerschlag der ganzen Familie das Leben gerettet habe. Wenn sich jemand von der politischen Weitsicht Margot Hammerschlags beeindruckt zeigte, widersprach Steffi Wittenberg, weil für sie die Zuschreibung „politisch“ keinesfalls auf die Mutter zutraf. Diese sei eben besonders ängstlich gewesen und habe sich vorstellen können, wie weit die Machthaber gehen würden, so die Ansicht der Tochter.

Weibliche Potentiale


Zur Zeit des Interviews lagen die Spannungen mit der Mutter weit zurück. Margot Hammerschlag war elf Jahre zuvor im Frühsommer 1984 in Montevideo verstorben. Steffi Wittenberg beschreibt die Rolle der Mutter bei dem Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz der Familie nach der Emigration mit großer Differenziertheit, wollte die Leistung der Mutter würdigen. Sie erklärt in der ausgewählten Interviewpassage: „In dem Moment, als es eben wirklich darauf ankam zu überleben, da hat meine Mutter mehr Initiative gehabt, es besser schaffen zu können“. Das „besser“ bezieht sich auf den Vater, dem die Organisierung des elterlichen Betriebes Schwierigkeiten bereitete. Seine Initiative sei „ziemlich gebrochen [gewesen] nach seiner Verfolgung“ in Deutschland.

Steffi Wittenberg war stets berufstätig gewesen, auch, als ihre beiden Söhne noch klein waren. Das trug zweifellos dazu bei, die mütterliche Leistung beim Aufbau des Geschäftes so klar zu sehen. Auf Nachfrage der Interviewerin konnte sie Ursachen für die Unterschiedlichkeit der elterlichen Fähigkeiten in dieser Zeit des Neubeginns sofort benennen. Wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen als aktives Mitglied im Marie-Schlei-Verein, der Frauenselbsthilfeprojekte unter anderem in Lateinamerika fördert und Frauen in Berufstätigkeiten bringt, führte sie weibliche Potentiale in traditioneller Rollenverteilung an: Frauen seien dazu erzogen, sich „dem Mann anzupassen“, was es ihnen gegebenenfalls erleichtere, „sich auch den Verhältnissen besser anzupassen“. Männer hingegen seien auf ihre jahrelang ausgeübte Berufstätigkeit „geeicht“, sehr viel stärker auf das Fortbestehen der äußeren Umgebung angewiesen.

Zu erkennen, dass es frauenspezifische Ursachen für die Fähigkeit gibt, bei Bedarf über sich selbst hinauszuwachsen, reicht in ein wichtiges Politikfeld. Es diente Steffi Wittenberg als Orientierungsrahmen, wenn sie den mütterlichen Kraftakt für das wirtschaftliche Überleben beschrieb. Das ist deshalb bemerkenswert, weil sie dem vorangegangenen mütterlichen Kraftakt, die Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland herauszubringen, beharrlich eine politische Dimension verweigerte. Vielleicht lag das nicht nur daran, dass für sie, die es noch als weit über 70-jährige bedauerte, nicht mehr selbst aus Protest gegen eine Demonstration von Neonazis die Straße blockieren zu können, politisches Handeln bedeutete, aktiven Widerstand zu leisten.

Resümee


Interviews haben für die Betrachtung von Frauenrollen in der jüdischen Geschichte einen besonderen Wert, weil sie Einblicke in Selbstwahrnehmungen geben. Für die Untersuchung von Tochter-Mutter-Verhältnissen gilt es zu berücksichtigen, dass diese ein sensibles Geflecht wechselhafter Erfahrungen miteinander sein können. Im Falle von Steffi Wittenberg und ihrer Mutter war eine prägende Erfahrung die Zeit der Trennung von Vater und Bruder bei der Flucht aus Deutschland gewesen, markant dokumentiert durch das Gedicht „Familie Hammerschlag“. Bei Kriegsbeginn waren die Rollen von Mutter und Tochter vertauscht. Welche Spuren mag es hinterlassen, wenn man als 13-jährige in die Position gerät, die Angst der Mutter aufzufangen? Diejenige zu sein, die Stärke ausstrahlen, Zuversicht geben muss, wo die Mutter sich dazu angesichts der Umstände nicht in der Lage sieht? Wenn Steffi Wittenberg an späterer Stelle in dem Interview sagt, „dass Eltern [von] ihren Kindern [] seelisch abhängiger sind als umgekehrt“, hatte das möglicherweise – neben ihren eigenen Gefühlen als Mutter – auch mit ihren Erinnerungen an sich und ihre Mutter bei Kriegsbeginn zu tun.

Auswahlbibliografie


Linde Apel / Klaus David / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Aus Hamburg in alle Welt. Lebensgeschichten jüdischer Verfolgter aus der „Werkstatt der Erinnerung“, München u.a. 2011.
Ilse Lenz (Hrsg.), Die neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 22010.
Ursula Randt, Carolinenstraße 35. Geschichte der Mädchenschule der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg 1884-1942, Hamburg 1984.
Sonja Wegner, Zuflucht in einem fremden Land. Exil in Uruguay 1933-1945, Berlin u.a. 2013.

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Zur Autorin

Erika Hirsch, Dr. phil., war von 1989 bis 2018 die Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule. Sie vollendet gerade eine Biografie über Steffi Wittenberg.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Erika Hirsch, „Als es eben wirklich drauf ankam ...“ - Erinnerungen einer Tochter an ihre Mutter, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 15.07.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-282.de.v1> [21.11.2024].

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