Die Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung 1919 sahen für Frauen das aktive und passive Wahlrecht vor. Die Hamburger jüdische Gemeinde folgte dem insofern, als sie mit Änderung ihrer Satzung 1919 den Frauen jedenfalls das aktive Wahlrecht zum Repräsentanten-Kollegium einräumte. Über das passive Wahlrecht der Frauen wollte die Deutsch-Israelitische Gemeinde (DIG) erst in einer grundsätzlichen Reform der Gemeindeverfassung entscheiden. Um vor allem den erheblichen Bedenken der Orthodoxie entgegenzukommen, verständigte sie sich zudem dahingehend, rabbinische Gutachten zur Frage der religionsgesetzlichen Beurteilung eines Frauenwahlrechts einzuholen. Ein erster Gutachtenauftrag erging 1921 an den Oberrabbiner des eigenen Synagogenverbandes, Dr. Samuel Spitzer. Oberrabbiner Spitzer antwortete am 26.8.1921, er sei über die Anfrage verwundert, da er bereits früher von der Kanzel herab anlässlich einer halachischen Erörterung entschieden habe, dass „die Gewährung des aktiven oder passiven Wahlrechts an Frauen religionsgesetzlich verboten ist“ StAHH JG 301 a, Schreiben von Oberrabbiner Spitzer an den Vorstand der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, Hamburg 26.8.1921, zit. nach: Ina Lorenz, Die Juden in Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Dokumentation, Hamburg 1987, Bd. 2, S. 844.. Einen weiteren Auftrag erhielt der hoch angesehene Rektor des Rabbiner-Seminars zu Berlin, Prof. Dr. David Zwi Hoffmann. Hoffmann verwies am 26.6.1921 auf sein 1919 veröffentlichtes Gutachten (Jeschurun VI 1919, S. 262–266). Die Antworten fielen, wie kaum anders zu erwarten, negativ aus. Auch der Altonaer Oberrabbiner, Dr. Meir Lerner (1857–1930), votierte 1922 negativ.
Im Frühsommer 1923 wurde die Frage des passiven Frauenwahlrechts im Zuge einer grundlegenden Verfassungsreform der DIG erneut aufgegriffen. Nun war es der Vorstand des Synagogenverbandes selbst, der sich nochmals um ein rabbinisches Gutachten bemühte. Der frühere Gutachter David Hoffmann war inzwischen verstorben. Sein Sohn, der Breslauer Rabbiner Dr. Moses Jehuda Hoffmann antwortete am 24.5.1923 gutachterlich mit einer negativen Stellungnahme. Sie verband ein Referat über das Gutachten des Vaters von 1919 mit seiner eigenen Position, die indes von eher pragmatischer Natur zu sein schien. Im Herbst 1924 scheiterte daraufhin eine gemeindliche Satzungsänderung zugunsten des passiven Frauenwahlrechts endgültig. Die Gründe waren dieselben wie zuvor. Ein Streit mit der Orthodoxie sollte vermieden werden. Man hoffte aber, dass sich im Laufe der nächsten Jahre die Orthodoxie zu dem Standpunkt durchringen würde, dass das passive Frauenwahlrecht zu gestatten sei.
Ein rabbinisches Gutachten ist für nichtjüdische Laien nur schwer zu verstehen; es wird hier wiedergegeben, um zu zeigen, wie bedeutsam und ausschlaggebend die religionsgesetzliche Haltung der Orthodoxie sich auf das jüdische Gemeindeleben auswirken konnte. Der Gutachter Moses Jehuda Hoffmann war von 1921 bis 1938 Rabbiner in Breslau, er war Mitglied des Rates des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden, der Vereinigung der traditionell-gesetzestreuen Rabbiner Deutschlands und der Agudas Jisroel. 1938 in das KZ Buchenwald verschleppt, gelang ihm 1939 die Emigration nach Palästina. Rabbiner Hoffmann berief sich auf eine Entscheidung von Moses Maimonides (Hilchot Mĕlachim 1,5) und auf die Sifre Deut. 157. Kernaussage war letztlich die Exegese von 5. Mose 17, 14–15. Nach der Übersetzung von Leopold Zunz: „14. Wenn du kommst in das Land, das der Ewige dein Gott dir gibt, und du nimmst es ein und wohnest darin, und du sprichst: Ich will über mich einen König setzen, wie all die Völker die rings um mich; 15. So setze einen König über dich, den der Ewige dein Gott erwählen wird. Aus der Mitte deiner Brüder sollst du über dich einen König setzen; du darfst nicht über dich einsetzen einen Ausländer, der nicht dein Bruder ist.“ Die Rede ist ausdrücklich von einem König und nicht von einer Königin. Deshalb werden die Amtstätigkeiten der Prophetin und Richterin Deborah und der jüdischen Königin Salome Alexandra im Hinblick auf die besonderen politischen Verhältnisse als Ausnahme betrachtet. Ihnen wird daher die Verallgemeinerungsfähigkeit abgesprochen und das passive Wahlrecht von Frauen abgelehnt.
Nach Auffassung von Maimonides (geboren zwischen 1135 und 1138 in Córdoba, gestorben 1204 in Kairo) setzen keine Entscheidungen der Possĕkim ein Verbot des aktiven Frauenwahlrechts fest. Daher soll das aktive Frauenwahlrecht erlaubt sein. Moses Maimonides gilt als bedeutender Philosoph und Rechtsgelehrter des Mittelalters und als der bedeutendste jüdische Gelehrte aller Zeiten.
Die eingeholten rabbinischen Gutachten und Stellungnahmen wirkten sich für die Hamburger Gemeinde im Ergebnis als Sperrfunktion aus. Die DIG musste erkennen, dass für die Orthodoxie die Frage des passiven Frauenwahlrechts eine prinzipielle Bedeutung besaß. Um der Einheit der Gemeinde willen steckte die Mehrheit, seit Anfang der Weimarer Zeit aus Liberalen und Zionisten bestehend, ihre Forderungen nach einer Gleichberechtigung der Geschlechter zurück. Sie hatte in den vergangenen Jahrzehnten in der Gemeinde mehrfach Erfahrungen über krisenhafte Zuspitzungen gewonnen und verhielt sich nun vorsichtig. Die DIG hatte sich im „Hamburger System“ gegenüber den Kultusverbänden zur religiösen Neutralität verpflichtet. Bereits im Streit um das jüdische Begräbniswesen verließen einige orthodoxe Gemeindeangehörige Mitte der 1880er-Jahre die Gemeinde. Denn der Oberabbiner des Synagogenverbandes, Anselm Stern, hatte die von der DIG erreichte Lösung bei den religionsgesetzlichen Anforderungen an einen jüdischen Friedhof (Ohlsdorf / Ilandkoppel) als nicht gegeben angesehen. Nun drohte in der Wahlrechtsfrage erneut eine tiefgreifende Auseinandersetzung. Die eingeholten rabbinischen Gutachten bestärkten die Orthodoxie in ihrer strikt ablehnenden Haltung. So beließ die Gemeinde es einstweilen dabei, dass Frauen nur das aktive Wahlrecht und die Mitgliedschaft in einer der zahlreichen wohltätigen Kommissionen zugestanden wurde. Es handelte sich dabei um eine pragmatische Lösung, die fürs Erste einheitsstiftend wirken sollte.
Im Vorfeld zu den Wahlen zum Repräsentanten-Kollegium 1930 wurde die Debatte um den satzungsrechtlichen Status der Frau erneut eröffnet. Wiederum sperrte sich die orthodoxe Richtung gegen eine Veränderung. Niemand versagte es dem orthodoxen Synagogenverband, die Frage des Frauenwahlrechts intern autonom zu beantworten, aber die Orthodoxie wollte auch auf der Ebene der Gemeindeinstitutionen ihre religiöse Sicht durchsetzen. Damit vertrat sie jedoch eine Minderheitenposition. Mitte der 1920er-Jahre sank der Anteil derjenigen Gemeindeangehörigen, die zugleich einem der drei Kultusverbände angehörten, auf etwa 35 Prozent, davon war gut die Hälfte dem Synagogenverband zuzurechnen. Ein Antrag der Liberalen, den Frauen das passive Wahlrecht zum Repräsentanten-Kollegium einzuräumen, und ein weitergehender Antrag der Zionisten, auch die Wählbarkeit in den Gemeindevorstand zu eröffnen, verfehlten zunächst die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit. Als die Zionisten ihre Forderung aufgaben, konnte eine sichere Mehrheit jedenfalls für das passive Wahlrecht hinsichtlich des Repräsentanten-Kollegiums erreicht werden. Das Stimmenverhältnis betrug 13 gegen fünf Stimmen der Orthodoxie. Der Sohn des Oberrabbiners, Dr. Alexander Spitzer, erklärte daraufhin demonstrativ seinen Austritt aus der Gemeinde, weitere folgten. In den Wahlen zum Repräsentanten-Kollegium 1930 wurden auf 21 Sitze mit Anni Bauer, Dr. Lilli Meyer-Wedell und Phoebe Caro erstmals drei Frauen gewählt. Die Bedeutung rabbinischer Stellungnahmen verlor in der Folgezeit an Kraft. So bildeten die rabbinischen Stellungnahmen von Samuel Spitzer, David Hoffmann und Meir Lerner für die DIG wohl eher eine Momentaufnahme. Die Haltung des späteren Oberrabbiners des Synagogenverbandes, Joseph Carlebach, zum Frauenwahlrecht ist nicht näher bekannt. Er vertrat in zahlreichen Fragen weniger strenge Positionen als sein Altonaer Vor-gänger Meir Lerner. In Berlin erhielten Frauen bereits im Februar 1925 bei den Wahlen zum Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden das aktive und ebenso das passive Wahlrecht. Auch in Sachsen, Bayern und Braunschweig bröckelte die ablehnende Front.
In der DIG wurde alle fünf Jahre gewählt. Die Frage des passiven Frauenwahlrechts würde sich also 1935 wiederum stellen – dazu kam es jedoch nicht mehr. Angesichts der veränderten politischen Verhältnisse im nationalsozialistischen Staat stellten im Frühjahr 1934 viele größere jüdische Gemeinden Überlegungen an, ob anstehende Wahlen nicht zu verschieben seien. Die Hamburger Behörden gestatteten der DIG auf Anfrage, die Amtszeit des 1930 gewählten Kollegiums bis zum 31.3.1937 zu verlängern. Es lag auf der Hand, dass spätestens Anfang 1937 eine dann wohl abschließende Klärung nötig sein würde. Die Gemeinde verständigte sich intern dahin, die Zusammensetzung von Vorstand und Repräsentanten-Kollegium ohne Wahlen auszuhandeln. So wurden 1937 mit Tilly Zuntz und Dr. Lizzy Valk zwei Frauen ins Kollegium berufen. Dem Vorstand der Gemeinde gehörte auch jetzt noch keine Frau an. Von ordentlichen Wahlen konnte ohnedies keine Rede mehr sein. Die Amtszeit des 21-köpfigen Repräsentanten-Kollegiums sollte satzungsmäßig bis zum 31.3.1940 dauern. Auch dazu kam es nicht mehr. Im Zuge der Folgen des Novemberpogroms 1938 beseitigte die Gestapo die altehrwürdigen Institutionen von Vorstand und Kollegium und ersetzte die kollegiale Entscheidungsstruktur in der Gemeinde durch das „Führerprinzip“. Eine kollektive Zusammenarbeit von jüdischen Funktionsträgern blieb nur auf der Arbeitsebene erhalten.
Die Satzung der Hamburger jüdischen Gemeinde, deren Neuanfang und Wiederaufbau auf Herbst 1945 zu datieren ist, wies Frauen in der nunmehr bestehenden Einheitsgemeinde das aktive und passive Wahlrecht zu. Rabbinische beziehungsweise halachische Ablehnungsgründe, wie sie das Gutachten von David Hoffmann in religionsgesetzlicher Sicht vertieft für das passive Frauenwahlrecht formuliert hatte, wurden nicht erörtert. Die Mehrheit der Hamburger Juden urteilte einmütig anders und bewertete die seinerzeitigen Bedenken ersichtlich als zeitbedingt. Die erste Frau als Vorsitzende des Gemeindevorstandes gab es dann mit Gabriela Fenyes erst 1995.
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Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/
Ina Lorenz, Die Einführung des Frauenwahlrechts in der jüdischen Gemeinde Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 05.07.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-44.de.v1> [21.11.2024].