Im Vorwort seiner 1958 veröffentlichten Studie „Sephardim an der unteren Elbe“ erwähnt Hermann Kellenbenz, dass seine erste Konfrontation mit dem Thema bereits fast 20 Jahre zurückliege und ihn bei den Vorarbeiten zu seiner Kieler Dissertation über die schwedische Domäne Holstein-Gottorf (1938) das „Fremdartige“ an Manuel Teixeira, einem der Protagonisten seiner Arbeit, angelockt habe. Die Namen aller, die ihm im Laufe der Jahre Hilfe und Rat zuteil werden ließen, zu nennen, erklärt er für unmöglich. Verschleiert wird damit, dass die Arbeit des im Nachkriegsdeutschland äußerst einflussreichen Wirtschaftshistorikers aus einem mehrjährigen Forschungsauftrag des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ hervorging. Auf Grund des daraus entstandenen Textes mit dem Titel „Das Hamburger Finanzjudentum und seine Krise“ wurde Kellenbenz noch Ende November 1944, also kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, an der Universität Würzburg habilitiert. Die ursprüngliche Fassung ist allerdings ebenso wenig erhalten wie der Habilitationsakt. Vermutlich sind sie bei einem Bombenangriff auf Würzburg im März 1945, bei dem auch die Universitätsbibliothek in Mitleidenschaft gezogen wurde, vernichtet worden.
Das vom Historiker Walter Frank 1935 gegründete „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands“ in Berlin sollte zum Zentrum einer neu gestalteten, nationalsozialistisch-antisemitischen Geschichtswissenschaft werden. Mit seiner 1936 gegründeten, interdisziplinär konzipierten „Forschungsabteilung Judenfrage“ in München war es eine der wichtigsten Institutionen für die nationalsozialistische „Judenforschung“, vor allem in ihrer frühen Phase. Als „Judenforschung“ oder „Erforschung der Judenfrage“ wurden die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten bezeichnet, die nichtjüdische Wissenschaftler während der nationalsozialistischen Herrschaft betrieben und sich aus explizit antisemitischer Perspektive mit der Geschichte des Judentums und der sogenannten „Judenfrage“ beschäftigten. Die „Judenforschung“ versuchte sich im „Dritten Reich“ mit einer Reihe von Instituten, Veröffentlichungsorganen und Veranstaltungen sowie nicht zuletzt der distinkten Bezeichnung als eigenständiges Forschungsfeld über die traditionellen Fachgrenzen hinweg zu formieren und zu etablieren.
Jenseits der Rassenkunde stellt sie den markantesten Schnittpunkt von Wissenschaft und antisemitischer Propaganda sowie nationalsozialistischer Ideologie und antijüdischer Politik in ihrer Praxis von der Ausgrenzung über die Vertreibung bis zum Massenmord dar. In der NS-Judenforschung wurde der Antisemitismus zum erkenntnisleitenden Prinzip erhoben, die jeweils bereits antisemitisch konstruierte „Judenfrage“ zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Interesses und Fokus der Forschungstätigkeit. Entgegen der Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft, Themen (deutsch-) jüdischer Geschichte auszublenden, wurden diese während der NS-Zeit durchaus für erforschungswürdig gehalten. Parallel zur Vertreibung und Ermordung des europäischen Judentums fand so eine Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte aus nationalsozialistisch-antisemitischer Perspektive statt – wobei diese Auseinandersetzung offensichtlich über die Erfordernisse der Propaganda zur Rechtfertigung der antijüdischen deutschen Politik auf der einen und der Politik zu ihrer Implementierung auf der anderen Seite hinausging. Mit der NS-Judenforschung beginnt zwar nicht die wissenschaftliche Beschäftigung mit jüdischer Geschichte in Deutschland, doch gerade sie stellt ihre erste deutliche Verankerung in der akademischen Landschaft dar, die nach 1945 unter anderen politischen Bedingungen fortgesetzt wurde. Die Zwangsintegration jüdischer Geschichte in die deutsche Geschichte wurde von jenen durchgeführt, die gleichzeitig eine antijüdische Politik legitimierten und betrieben. Die Institutionalisierung der Erforschung jüdischer Geschichte fand in Deutschland geradezu komplementär zur Vertreibung und Ermordung des deutschen und europäischen Judentums statt.
Innerhalb kurzer Zeit kam es im „Dritten Reich“ zu einer regelrechten Gründungswelle von Einrichtungen zur „Judenforschung“. Verschiedene Ämter und Akteure versuchten, kooperierend und konkurrierend, diese als historisch fundierten, transdisziplinär ausgerichteten geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhang über die traditionellen Fachgrenzen hinweg zu konstituieren und auf diesem Feld präsent zu sein. Bereits 1935 wurde in Berlin das „Institut zum Studium der Judenfrage“ gegründet, das ab 1939 als „Antisemitische Aktion“ und ab 1942 als „Antijüdische Aktion“ fungierte. Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Abteilung von Goebbels’ Reichspropagandaministerium, wobei diese Verbindung aber zur Wahrung des Anscheins eines unabhängigen wissenschaftlichen Forschungsinstituts in der Öffentlichkeit verdeckt gehalten wurde. 1936 wurde dann in München mit der „Forschungsabteilung Judenfrage“ des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“ eine der bedeutendsten und produktivsten Einrichtungen der NS-Judenforschung gegründet. Das in Berlin beheimatete Reichsinstitut sollte im „Dritten Reich“ die „Historische Reichskommission“ ersetzen und war neben dem „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichte“ für die Geschichtsforschung über die Neuzeit, vor allem seit der Französischen Revolution, zuständig. In Konkurrenz zu den Aktivitäten an Franks Reichsinstitut wurde im März 1941 in Frankfurt am Main das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ eröffnet, das bereits 1939 formell gegründet worden war. Das Institut war die erste realisierte Außenstelle von Rosenbergs für die Zeit nach dem Krieg geplanter nationalsozialistischer Alternativuniversität, der „Hohen Schule“. In Eisenach wurde 1939 unter der Leitung des protestantischen Theologen Walter Grundmann das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegründet. Auch im Amt VII des Reichssicherheitshauptamts wurde im Zusammenhang mit sicherheitspolizeilicher Tätigkeit mit wissenschaftlichem Anspruch über rassische und weltanschauliche Gegner und damit unter anderem über Juden geforscht („Gegnerforschung“). An einigen Universitäten wurde über die Vergabe von Lehraufträgen hinaus die Einrichtung von entsprechenden Lehrstühlen versucht: so in Tübingen, Wien, Berlin und Frankfurt. Die Habilitation von Hermann Kellenbenz an der Universität Würzburg zeigt allerdings, dass auch an Universitäten ohne solche Lehrstühle „Judenforschung“ durch einzelne Wissenschaftler betrieben wurde.
Insgesamt haben sich in der 1958 veröffentlichten Version von Kellenbenz 1944 fertiggestellter Arbeit keine auffälligen Residuen antisemitischer Positionen erhalten, obwohl solche in zeitgenössischen Publikationen immer wieder zu finden sind. Allerdings werden im Literaturverzeichnis der Nachkriegsfassung noch Arbeiten aus dem Zusammenhang der NS-Judenforschung angeführt: Volkmar Eichstädts „Bibliographie zur Geschichte der Judenfrage“ (1938) sowie ein Beitrag von Wilfried Euler über „Das Eindringen jüdischen Blutes in die englische Oberschicht“ aus den „Forschungen zur Judenfrage“ (Bd. 6, 1941).
Inwieweit sich gerade hinter Kellenbenz’ Kritik an Werner Sombart, dieser habe die Bedeutung der Juden für die Entstehung des modernen Kapitalismus überbewertet, die zunächst unvereinbar mit Positionen der NS-Ideologie zu sein scheint, ein antisemitisches Argument verbirgt, das Juden jegliche schöpferische Fähigkeiten abzusprechen versucht, kann kaum abschließend beantwortet werden. Eng an den Quellen argumentierend, diagnostizierte er eine besondere Bedeutung der Sefarden für die Modernisierung des Hamburger Portugal- und Spanienhandels aufgrund ihrer ausländischen Erfahrungen, ebenso wie bei zugezogenen Niederländern und Oberdeutschen, verwarf aber Sombarts Annahme, diese hätten den hamburgischen Portugal- und Spanienhandel erst begründet und dominiert.
Dementsprechend empört reagierte Kellenbenz auf seine Erwähnung in Helmut Heibers Buch über Walter Frank und das Reichsinstitut. Der Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte war einer der ersten, der sich mit den deutschen Historikern in der NS-Zeit beschäftigte. In einem Schreiben an Theodor Schieder, seinem damaligen Kollegen an der Universität Köln, der zusammen mit Hans Rothfels Heibers Studie begutachtet und dem Institut für Zeitgeschichte zur Veröffentlichung empfohlen hatte, betonte er unter Hinweis auf das Gutachten von Wilhelm Enßlin für seine Würzburger Habilitation, dass sein „Werk von vornherein nicht nur auf die Darstellung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sephardim, sondern ebenso auf die Einfügung des ganzen Fragenkomplexes in die politische Geschichte des 17. Jahrhunderts angelegt war“. Tatsächlich war Kellenbenz nie im eigentlichen Sinne ein Spezialist für jüdische Geschichte, sondern vielmehr ein Wirtschaftshistoriker. Dennoch war es offensichtlich angezeigt, den Schwerpunkt der Arbeit noch nachträglich deutlich von einem Thema der „Judenforschung“ hin zur klassischen politischen Geschichte zu verschieben. Die Exkulpation (Selbst-)entlastung, Schuldbefreiung aus den ideologischen Zusammenhängen von Wissenschaft unter nationalsozialistischen Bedingungen ging bezeichnenderweise in diesem Fall einher mit einer Distanzierung vom Feld der jüdischen Geschichte überhaupt, womit implizit eingestanden wurde, dass jede Beschäftigung mit jüdischer Geschichte im „Dritten Reich“ politisch und ideologisch geprägt war.
Hermann Kellenbenz wurde von der Spruchkammer München I im Zuge der Weihnachtsamnestie 1947 entlastet: Trotz seiner Parteimitgliedschaft habe er dem Nationalsozialismus ablehnend gegenübergestanden, im nationalsozialistischen Geist habe er sich nicht betätigt, er wurde vielmehr als Kritiker und Feind des Nationalsozialismus eingeschätzt. Die Tätigkeit als „Forschungsbeauftragter des Reichsinstituts für Geschichte [!]“ wurde nicht als belastend gewertet, weil die Einrichtung keine Parteiunternehmung war. Kellenbenz hatte sich in seiner Erklärung gegenüber der Spruchkammer auf eine wirtschaftliche Notlage, ein „ständiges Sichbedrohtfühlen von einem staatlichen Zwang“, aber auch – seine Selbstdarstellung als Wissenschaftler interessant modifizierend – auf Dummheit und Unerfahrenheit herausgeredet: „Wollen Sie doch bitten berücksichtigen, daß ich damals trotz meiner Büchergescheitheit vom Leben her gesehen mit meinen 22 Jahren noch dumm und unerfahren war.“ Er stilisierte sich zu einem derjenigen „Kleinen, denen es immer im Leben schwer geht“. Vor allem das antisemitische Programm der Partei habe er abgelehnt, seine Mutter habe zudem immer mit Juden verkehrt. Seine Arbeiten seien ausschließlich historischen Charakters gewesen und „streng wissenschaftlich“. Als Absicht hinter seiner Habilitationsschrift gab er an, das Thema „im Gegensatz zu den damals erscheinenden Büchern über die Juden streng wissenschaftlich, nur nach den festgestellten Tatsachen darzustellen“. Ausdrücklich stellte er sich zur Mitarbeit am Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands zur Verfügung.
Kellenbenz’ Selbstdarstellung wurde unterstützt von einer Reihe von eidesstattlichen Erklärungen. Diese betonten wiederholt, dass er dem Nationalsozialismus „innerlich fremd und ablehnend“ gegenübergestanden und ein Opfer der Umstände gewesen sei, vor allem aber immer nur das Berufsziel eines „absolut objektiven Historikers“ verfolgt habe und von „rein wissenschaftlichem Streben“ erfüllt war. Zum Argument wurde auch, dass sich das Reichsinstitut gegen parteipolitische und weltanschauliche Einflussnahme erwehren musste. Kellenbenz konnte so relativ unbeschadet seine Karriere fortsetzen, zunächst ab Ende 1947 mit einem Lehrauftrag an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Regensburg, als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor in Würzburg, mit Gastaufenthalten an der Harvard University und der Pariser École Pratique des Hautes Études, ab 1957 mit einem Lehrstuhl an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg, von 1960 bis 1970 an der Universität Köln und schließlich wieder bis zu seiner Emeritierung an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Deutlich ist in jedem Fall, dass die Geschichte der NS-Judenforschung mit dem
Jahr 1945 keinesfalls beendet war. Auch Kellenbenz’ Werk kann nicht
losgelöst von den nationalsozialistischen Massenverbrechen betrachtet werden. Er
selbst soll bei Kriegsende in München, im Frühjahr
1945, tagelang die Akten der „Forschungsabteilung
Judenfrage“ des Reichsinstituts verbrannt haben.
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Dirk Rupnow, Univ.-Prof. Mag. Dr., geb. 1972, ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind: österreichische, deutsche und europäische Zeitgeschichte, die NS-Zeit und der Holocaust, jüdische Geschichte, Wissenschaftsgeschichte, Kulturwissenschaften, transnationale Geschichte, Migrationsgeschichte sowie Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft.
Dirk Rupnow, Kontinuitäten der NS-Judenforschung?, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-88.de.v1> [21.11.2024].