Das „Neue Bauen“ und die jüdische Architektur. Eine Fotografie des Tempels in der Oberstraße

Ulrich Knufinke

Quellenbeschreibung

Die Schwarz-Weiß-Fotografie des Innenraums des Tempels in der Oberstraße wurde 1937 publiziert, ihr Fotograf ist Erich Kastan, ein seinerzeit in Hamburg lebender Fotograf jüdischer Herkunft. Sie zeigt einen Überblick über den Raum mit den wesentlichen Elementen der Synagoge: hinten die raumhohe Nische mit der Toraschrein-Bima-Anlage und dem Orgelprospekt, davor die Bankreihen des Erdgeschosses sowie rechts und links die ansteigenden Seitenemporen. Die Fotografie illustriert mit weiteren Aufnahmen Kastans den Artikel „Der neue Tempel“ von Felix Ascher Felix Ascher (geb. 1883 in Hamburg, gest. 1952 in London), Architekt; zahlreiche Bauten in Hamburg, u.a. der Tempel in der Oberstraße (1931, mit Robert Friedmann). Um 1938 Emigration nach Großbritannien, dort weitere Bauten.. Ascher war mit Robert Friedmann Robert Friedmann (geb. 1880 in Hamburg, gest. 1940 in Jerusalem), Architekt; zahlreiche Bauten in Hamburg, unter anderem der Tempel in der Oberstraße (1931, mit Felix Ascher). 1933 Emigration nach Palästina, dort weitere Bauten. einer der beiden Architekten der 1931 eingeweihten Synagoge. Der Beitrag erschien 1937 in der von Bruno Italiener herausgegebenen Festschrift zum hundertzwanzigjährigen Bestehen des Israelitischen Tempels in Hamburg 1817–1937“ (Hamburg 1937). Ein originales Negativ oder ein zeitgenössischer Einzelabzug der Fotografie ist bislang nicht bekannt, so dass sie lediglich in der Publikation überliefert ist.
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Der in Hamburg ansässige Fotograf Erich Kastan, der ein Mitglied der jüdischen Gemeinde war, machte zu einem nicht genauer bekannten Zeitpunkt zwischen 1931 und 1937 ein Schwarz-Weiß-Foto des Innenraums des Tempels in der Oberstraße. Der Tempel war 1931 als Synagoge des seit 1817 bestehenden Israelitischen Tempelverbands eingeweiht worden. Das Foto zeigt den Raum in strenger Zentralperspektive: Offenbar hatte der Fotograf seine Kamera recht weit oben auf der Westempore in der Mittelachse des Saals gegenüber der Ostwand aufgestellt. Der gewählte Blickwinkel und der klare Bildaufbau charakterisieren die Aufnahme als dem Genre der professionellen Architekturfotografie zugehörig. Und tatsächlich wurde Kastans Foto 1937 im Kontext eines architekturbezogenen Artikels publiziert, in dem der Architekt Felix Ascher Felix Ascher (geb. 1883 in Hamburg, gest. 1952 in London), Architekt; zahlreiche Bauten in Hamburg, u.a. der Tempel in der Oberstraße (1931, mit Robert Friedmann). Um 1938 Emigration nach Großbritannien, dort weitere Bauten. in einer Festschrift zum 120-jährigen Bestehen des Israelitischen Tempels das von ihm und Robert Friedmann Robert Friedmann (geb. 1880 in Hamburg, gest. 1940 in Jerusalem), Architekt; zahlreiche Bauten in Hamburg, u.a. der Tempel in der Oberstraße (1931, mit Felix Ascher). 1933 Emigration nach Palästina, dort weitere Bauten. entworfene Bauwerk ausführlich vorstellte.

Adressaten der Tempel-Fotografie


Das Genre der Architekturfotografie entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Medium der Architekturvermittlung. Man begann, historische und neue Gebäude nicht mehr nur durch Zeichnungen und Stiche, sondern auch durch Fotografien zu dokumentieren, um sie in der Architektur-Fachpresse und anderswo zu publizieren. So wurden auch neue Synagogen zu fotografierten Objekten, denn in den Bauzeitungen erschienen regelmäßig auch illustrierte Berichte über jüdische Bauten. Einerseits war es also um 1930 nicht ungewöhnlich, den Tempel in der Oberstraße als bemerkenswerte Architektur und vorbildliches Bauwerk zu fotografieren und zu veröffentlichen. Andererseits war nach 1933 nicht mehr an eine Publikation in der allgemeinen Architektur-Fachpresse zu denken. Zielgruppe der Festschrift von 1937 war, so darf man annehmen, die zunehmend unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung leidende jüdische Gemeinde, die mit der Veröffentlichung ihre lange Tradition belegte, ihre Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar machte und ihr religiöses und kulturelles Selbstbewusstseins demonstrierte.

Elemente einer typischen Reformsynagoge


Mit dem Foto setzte Kastan den Innenraum des Tempels in einer zeitgenössisch durchaus üblichen Weise in Szene: Die Zentralperspektive betont den symmetrischen Aufbau des Saals; der hochgelegene Kamerastandort erlaubt einen guten Überblick und unterstreicht den monumentalen, schlichten Raumeindruck; Menschen, die den Bildaufbau stören und von der Architektur ablenken könnten, sind nicht fotografiert. Der Innenraum des Tempels in der Oberstraße, den Kastan in der Aufnahme festhält, steht in der Tradition der Reformsynagogen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert einen eigenen Raumtypus hervorgebracht hatten. Die liturgisch wichtigen Orte sind auf einer Seite des Saals in einer raumhohen, mit einer Podestanlage ausgefüllten Nische zusammengefasst. Eine polierte Wand aus dunklem Naturstein bildet den Abschluss der Nische, in sie ist der Toraschrein (Aron ha-Qodesch) zur Aufbewahrung der Torarollen eingelassen. Über der Wand ragen die Pfeifen der Synagogenorgel hervor. Orgeln sind ein typisches Element der Reformsynagogen, und der Hamburger Tempelverein als eine der ältesten jüdischen Reformgemeinden trug in hohem Maße dazu bei, dass der reformierte Gottesdienstritus von neuer synagogaler Musik, von Orgel und Chorgesang, begleitet war. Vor dem Toraschrein befinden sich das Predigtpult sowie ein Tisch zur Verlesung der Tora (Bima bezeihungsweise Schulchan). Die Gottesdienstbesucher sitzen diesem bühnenartigen Aufbau gegenüber, ihre Bänke sind im Erdgeschoss in mehrere Blöcke eingeteilt. Seitlich und auf der dem Toraschrein gegenüberliegenden Seite umschließen ansteigenden Emporen den Saal, der durch senkrechte Fensterschlitze Tageslicht erhält. Die Zugänge sind auf dem Foto nicht erkennbar, sie liegen dem Toraschrein gegenüber unter der Empore (für das Erdgeschoss) beziehungsweise führen von hinten auf die Empore. Die seitlichen, ohne Stützen in den Raum ragenden Emporen unterstützen die Tiefenwirkung des Saals ebenso wie die dreiteilige Decke mit ihren bis zur Nische durchlaufenden Trägern.

Am Bau beteiligte Architekten und Künstler


Die Architekten des Tempels, Felix Ascher und Robert Friedmann, hatten einen Bau entworfen, der den seinerzeit aktuellen Tendenzen in der Architektur und besonders im Sakralbau entsprach. Sie waren nach einem 1928 ausgeschriebenen Wettbewerb, zu dem außer zwei Experten für protestantischen und katholischen Kirchenbau nur jüdische Architekten eingeladen waren, mit dem Projekt beauftragt worden. Die beiden Hamburger Baumeister, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, waren zuvor bereits mit zahlreichen Projekten als Vertreter des „Neuen Bauens“ hervorgetreten. Für die Ausstattung, zum Beispiel die im Foto erkennbaren Kugelleuchten, arbeiteten sie mit Naum Slutzky zusammen, der zuvor unter anderem am Bauhaus in Weimar als Lehrer tätig war. Mit Friedrich Adler war ein weiterer hoch angesehener jüdischer Gestalter beteiligt, er entwarf unter anderem die Inschrift über dem Toraschrein.

Die Architektur des „Neuen Bauens“


Der Israelitische Tempelverein hatte sich um einen entschieden modernen Entwurf bemüht. Die Baukommission der Gemeinde war sogar zu Besichtigungen neuer Sakralbauten – offenbar nicht nur neuer Synagogen – durch Deutschland gereist. In einem rückblickenden Artikel, den Siegfried Urias in der genannten Festschrift von 1937 veröffentlichte, heißt es: „[die Mitglieder der Baukommission] empfingen [so] den ersten erschütternden Eindruck davon, wie heute insbesondere ein jüdisches Gotteshaus in Schlichtheit und Monumentalität zugleich gebaut werden könnte, wobei die […] übliche Nachahmung fremder Stile – wie sie bisher für jüdische Sakralbauten gebräuchlich waren – gänzlich verlassen werden konnte.“ [Siegfried] Urias, Zur Geschichte des Tempel-Neubaus. Aus den Bau-Akten, in: Bruno Italiener (Hrsg.), Festschrift zum hundertzwanzigjährigen Bestehen des Israelitischen Tempels in Hamburg 1817–1937, Hamburg 1937, S. 36. Mit der explizit modernen Formensprache der Architektur und der Ausstattung des Tempels war demnach nicht nur die Erwartung verbunden, ein zeitgemäßes Bauwerk zu schaffen – „Schlichtheit und Monumentalität“ sind Stichworte, die ebenso für die zeitgenössische christliche Sakralarchitektur des „Neuen Bauens“ gelten können. Es ging der Gemeinde auch darum, sich von der Debatte um den angemessenen Stil für jüdische Einrichtungen zu lösen, die seit dem Historismus im 19. Jahrhundert geführt wurde. Die historistischen Stile – maurisch, neo-romanisch, neo-klassizistisch und so weiter – wurden in den 1920er-Jahren allgemein als überholt abgelehnt. Im besonderen Fall der jüdischen Bauten spielte zudem eine Rolle, dass – wie Urias andeutet – die historistischen Stile von den jüdischen Gemeinden als nicht passend oder „fremd“ verstanden wurden, da sie nicht aus jüdischen Traditionen entwickelt worden waren. Auch die nichtjüdische Gesellschaft assoziierte mit diesen Stilen Fremdheit und Andersartigkeit: Gerade der maurische Stil wurde von der antisemitischen Propaganda, als Beleg für die „Fremdheit“ der Jüdinnen und Juden aufgegriffen. Das „Neue Bauen“, der auf Dekoration verzichtende, mit funktionaler, schlichter Gestaltung dennoch „Monumentalität“ erreichende Stil der Zeit um 1930, fand hingegen für jüdische und christliche Bauprojekte gleichermaßen Verwendung, und nicht zuletzt weil jüdische Architekten wie Friedmann und Ascher an seiner Entwicklung teilhatten, konnte er von jüdischer Seite als für ihre Bauten angemessen betrachtet werden.

Fazit


Der in großen Teilen gut erhaltene Tempel in der Oberstraße (jetzt Sendesaal des NDR – „Rolf Liebermann-Studio“) und das historische Foto seines nach mehreren Umbauten zum Studio heute weitgehend veränderten Innenraums, sind bemerkenswerte Dokumente dieser Suche nach einer spezifisch jüdischen Architektur in der Moderne. Der Hamburger Tempelverein unterstrich 1937, im 120. Jahr seines Bestehens, durch die Herausgabe der illustrierten Festschrift mit Kastans Foto des Tempels seinen Beitrag zur Entwicklung der modernen (Sakral-) Architektur – und dies zu einem Zeitpunkt, als das „Neue Bauen“ im Zeichen der nationalsozialistischen Politik als „jüdisch“ diffamiert und der Fortbestand der jüdischen Gemeinden durch den wachsenden Verfolgungsdruck längst unsicher geworden war. Auch insofern sind Kastans Foto und die Festschrift, in der es veröffentlicht und überliefert ist, aussagekräftige Dokumente des Selbstbewusstseins der herausgebenden jüdischen Gemeinde in der Zeit des Nationalsozialismus.

Auswahlbibliografie


Bruno Italiener (Hrsg.), Festschrift zum hundertzwanzigjährigen Bestehen des Israelitischen Tempels in Hamburg 1817–1937. Hamburg 1937.
Rüdiger Joppien / Almut Klingbeil, Friedrich Adler in Hamburg – die Jahre 1907–1933, in: Brigitte Leonhardt / Norbert Götz / Dieter Zühlsdorff (Hrsg.), Spurensuche: Friedrich Adler. Zwischen Jugendstil und Art Déco, Stuttgart 1994, S. 42–68.
Ulrich Knufinke, Synagoge (Tempel) Oberstraße, in: Aliza Cohen-Mushlin / Harmen Thies (Hrsg.), Synagogenarchitektur in Deutschland. Dokumentation zur Ausstellung „…und ich wurde ihnen zu einem kleinen Heiligtum…“ Synagogen in Deutschland, Petersberg 2008, S. 264–268.
Robert Friedmann. Mit einer Einleitung von Herbert Eulenberg und einem Nachwort von Wolfgang Voigt, Berlin 2000 (enthält den Nachdruck d. Ausgabe Berlin, Leipzig, Wien 1930).
Monika Rudolf, Naum Slutzky. Meister am Bauhaus, Goldschmied und Designer, Stuttgart 1990.
Wilfried Weinke, Verdrängt, vertrieben, aber nicht vergessen. Die Fotografen Emil Bieber, Max Halberstadt, Erich Kastan, Kurt Schallenberg, Weingarten 2003.

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Zum Autor

Ulrich Knufinke, Dr. Ing. habil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bet Tfila - Forschungsstelle für jüdische Architektur an der Technischen Universität Braunschweig sowie Privatdozent an der Universität Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind: jüdische Architekturgeschichte, jüdische Architekten, Architektur des Klassizismus sowie sakrale Architektur des 19. bis 21. Jahrhunderts.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Ulrich Knufinke, Das „Neue Bauen“ und die jüdische Architektur. Eine Fotografie des Tempels in der Oberstraße, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-35.de.v1> [20.11.2024].

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