Das Portrait zeigt den Hamburger Mediziner Eugen Fraenkel. Sein Gesichtsausdruck auf dem Bild ist ernst, die Stirn weist tiefe Falten auf, der Schnurrbart ist akkurat und die Augen schauen unter einem Zwicker hervor. Er trägt einen vornehmen Cut (schwarzes Jacket, beige Weste) mit dunklem Schlips und weißem Hemd mit Stehkragen. Gemalt hat das Bild die Hamburger Künstlerin Gretchen Wohlwill im Jahr 1928 – drei Jahre nach dem Tod Fraenkels. Als Vorlage diente eine Fotografie des Verstorbenen. Das auf Leinwand gemalte Ölportrait hat das Format 65 x 75 cm und wurde in der rechten unteren Ecke von der Künstlerin signiert.
Die Medizinische Fakultät der Universität Hamburg hatte das fertige Bild 1928 erworben und in einem ihrer Gebäude aufgehängt. Wie ein erhalten gebliebener Aufkleber auf der Rückseite des Rahmens belegt, wurde das Bild später von seinem Platz entfernt und nach dem bisherigen Stand der Forschung am 12.10.1939 in einer Sammelstelle für entartete Kunst abgegeben („Eingeliefert vom Universitätskrankenhaus Eppendorf“). Heute hängt das Bild im Medizinhistorischen Museum Hamburg, das in dem einst von Stadtbaudirektor Fritz Schumacher für Fraenkel geplanten, ehemaligen Pathologiegebäude untergebracht ist.
Der aus Neustadt in Oberschlesien (dem heutigen Prudnik in Polen) stammende Eugen Fraenkel kam 1874 als junger Assistenzarzt nach Hamburg. Die ersten Jahre war er am Allgemeinen Krankenhaus St. Georg tätig, wo er sich auf das Gebiet der pathologischen Anatomie spezialisierte. Im Jahr 1889 wechselte Fraenkel an das neu eröffnete Krankenhaus in Eppendorf und leitete fortan dessen pathologisches Institut und die damit verbundene bakteriologische Abteilung. Er entdeckte das Gasbrandbazillus (Clostridium perfringens), den Erreger einer lebensbedrohlichen bakteriellen Wundinfektion, der nach Fraenkel und dem amerikanischen Bakteriologen William Henry Welch auch als „Welch-Fraenkel-Bazillus“ bezeichnet wird.
Der Name Eugen Fraenkels ist untrennbar mit einer Katastrophe verbunden, die sich in das kollektive Gedächtnis der Hamburgerinnen und Hamburger eingebrannt hat: die Choleraepidemie von 1892. Als die ersten Verdachtsfälle Mitte August mit schweren Durchfällen und Erbrechen ins Eppendorfer Krankenhaus eingeliefert wurden, war Fraenkel im Urlaub. Der ärztliche Direktor Theodor Rumpf und sein Sekundärarzt Theodor Rumpel hatten den Choleraerreger in schleunigst angelegten Kulturen zunächst nicht eindeutig nachweisen können.
Erst dem zurückgekehrten Fraenkel gelang es, den entsprechenden Nachweis für die 1884 von Robert Koch identifizierten Choleravibrionen zu erbringen. Daraufhin wurden die örtlichen Gesundheitsbehörden über die Gefahr informiert. Doch es war bereits zu spät. Die Zahl der an Cholera erkrankten Menschen war sprunghaft angestiegen, die ersten Erkrankten gestorben. Aus Angst vor den wirtschaftlichen Folgen für die Handels- und Hansestadt zögerten die politischen Entscheidungsträger dennoch weitere zwei Tage, ehe sie am 24. August den Ausbruch der Epidemie publik machten und der Senat erste Gegenmaßnahmen erließ (zum Beispiel die Aufforderung zum Abkochen des Trinkwassers oder den Einsatz von Desinfektionskolonnen).
Als nach zehn Wochen der Ausbruch langsam zum Erliegen kam, waren in Hamburg insgesamt 16.596 Menschen an der Cholera erkrankt und 8.605 von ihnen an den Folgen der Erkrankung gestorben. Als Ursache für die Epidemie wurde das mangelhafte Trinkwasserversorgungssystem der Stadt ausgemacht. Denn anders als im benachbarten Altona, das bereits über eine moderne Kläranlage mit Sandfiltration verfügte und deshalb kaum Fälle zu beklagen hatte, wurden die Bewohnerinnen und Bewohner Hamburgs zu jener Zeit noch immer mit ungeklärtem Wasser aus der Elbe versorgt. Während des heißen Sommers hatten sich Choleraerreger in dem mit Fäkalien verdreckten Elbwasser explosionsartig vermehrt – ein Umstand, auf den Fraenkel bereits vor dem Ausbruch der Seuche hingewiesen hatte. Einen zweiten, die Ausbreitung der Cholera begünstigenden Umstand hatte der im Auftrag der preußischen Regierung nach Hamburg geschickte Robert Koch aufgedeckt: die unhygienischen Wohnbedingungen, die er bei der Inspektion der am stärksten von der Cholera betroffenen Quartiere wie etwa den Gängevierteln zu sehen bekam.
Auch an der Gründung der Hamburger Universität war Eugen Fraenkel maßgeblich beteiligt. Im Gegensatz zu Ludolf Brauer, dem damaligen Direktor des Eppendorfer Krankenhauses, befürwortete er die Idee, dass zukünftig auch Medizinstudierende in Hamburg ausgebildet werden sollten. Als im letzten Kriegsjahr 1918 eine Universitätsgründung ohne Medizinische Fakultät im Raum stand, nutzte Fraenkel die kriegsbedingte Abwesenheit von Brauer und organisierte mit Kollegen auf eigene Faust erste Medizinerkurse für Frauen und heimgekehrte Soldaten. Die Aktion erregte Aufmerksamkeit und der Einsatz von Fraenkel und seinen Mitstreitern zahlte sich schließlich aus: Als 1919 die Universität gegründet wurde, stimmte die Hamburger Bürgerschaft für den Aufbau einer Volluniversität mit Medizinischer Fakultät.
Eugen Fraenkel wurde zum ersten Ordinarius für Pathologie ernannt. Von 1921 bis 1923 stand er als Dekan der Medizinischen Fakultät vor. Bereits schwer erkrankt hielt er im Dezember 1924 seine Abschiedsvorlesung. Dass die Medizinische Fakultät später sein Portrait erwarb, verweist auf die Bedeutung Fraenkels und den Wunsch, ihn über seinen Tod hinaus zu würdigen. Diese Wertschätzung wurde ihm und der Künstlerin nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr zuteil, als die Fakultät das Bild abhängen und 1939 in einer Sammelstelle für entartete Kunst abliefern ließ.
Gretchen Wohlwill war eine in Hamburg geborene Malerin, die als Schülerin der Académie Matisse in Paris einen von der französischen Avantgardekunst geprägten Malstil entwickelte. Sie war Mitglied der Hamburgischen Sezession, einer 1919 gegründeten Künstlergruppe, die sich am 16.5.1933 auflöste, nachdem sie vom NS-Regime zum Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder aufgefordert worden war. Es war wohl kein Zufall, dass sie das Portrait Fraenkels nach dessen Tod anfertigte, vielmehr bestand eine persönliche Verbindung zwischen der Künstlerin und dem Gemalten: Ihr Bruder Friedrich Wohlwill, ebenfalls Mediziner, hatte bei Eugen Fraenkel am pathologischen Institut gearbeitet und war einige Jahre sein Stellvertreter gewesen.
Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wurden die Geschwister Wohlwill durch die Nationalsozialisten verfolgt. Gretchen emigrierte 1940 nach Portugal und kehrte erst 1952 nach Hamburg zurück. Dort starb sie am 17.5.1962 im Alter von 84 Jahren. Ihr Bruder Friedrich verlor aufgrund seiner jüdischen Abstammung basierend auf dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die Lehrerlaubnis und seine Stelle am Krankenhaus St. Georg. Er emigrierte daraufhin bereits 1933 nach Portugal und von dort aus weiter in die USA, wo er erneut als Arzt und Wissenschaftler tätig war. Im Gegensatz zu seiner Schwester kehrte Friedrich Wohlwill nicht nach Hamburg zurück – er starb 1958 mit 76 Jahren in den USA. An ihn wird mit einem vor dem Universitätsklinikum Hamburg verlegten Stolperstein erinnert. Zudem trägt ein Gebäude des Krankenhauses St. Georg seit 1999 seinen Namen.
Eugen Fraenkel starb am 20.12.1925 im Alter von 72 Jahren in Hamburg. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die 1938 sein Grabmal auf dem Ohlsdorfer Friedhof zerstörten, erlebte er selbst nicht mehr. Seine Familie war den Repressalien und der Verfolgung des NS-Systems jedoch schutzlos ausgeliefert: Sein ältester Sohn Max, der ebenfalls Mediziner in Hamburg war, nahm sich 1938 das Leben – wohl auch um seine „arische“ Frau und seine beiden Kinder zu schützen. Tochter Margarethe wurde 1944 in Auschwitz ermordet, ihr (Ex-)Mann, der Mediziner Paul Kuttner, starb 1943 in Theresienstadt. Ihre beiden Kinder überlebten die Schoah – Tochter Annemarie in einem Versteck in Berlin, Sohn Paul in England, wohin er noch 1939 mit einem Kindertransport gelangt war. Eugen Fraenkels Frau, Marie (geb. Deutsch), wurde ebenfalls nach Theresienstadt deportiert, wo sie mit 82 Jahren 1943 starb. Einzig der jüngste Sohn von Eugen und Marie Fraenkel, Hans, der als Journalist tätig war, konnte der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entkommen und lebte mit seiner Frau und seinem Sohn bereits vor und auch während des Zweiten Weltkrieges in Italien, Frankreich und der Schweiz. Er starb 1971 in Zürich. In Hamburg erinnern Stolpersteine an Eugen Fraenkels Frau Marie und seinen Sohn Max, in Berlin wurden Stolpersteine für Tochter Margarethe und Schwiegersohn Paul Kuttner verlegt.
Für die Geschichte Hamburgs ist das hier vorgestellte Bild aus mehreren Gründen bedeutsam: 1. Mit dem portraitierten Eugen Fraenkel wird an einen herausragenden Mediziner und Pathologen erinnert, der sich sowohl um die Bekämpfung der Choleraepidemie von 1892 als auch um die Gründung der Hamburger Universitätsmedizin am Ende des Ersten Weltkrieges verdient gemacht hat. 2. Gretchen Wohlwill, die Fraenkel portraitierte, war eine bekannte Hamburger Künstlerin und eine von nur wenigen Frauen in der Hamburgischen Sezession. 3. Die Auseinandersetzung mit dem weiteren Lebensweg von Mitgliedern der Familien Fraenkel und Wohlwill entlarvt den Nationalsozialismus als eine auf Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen ausgerichtete Ideologie. 4. Das Gemälde steht beispielhaft für die Vielzahl der von den Nationalsozialisten aus der Öffentlichkeit verbannten Kunstwerke.
Mittlerweile hat das Ölportrait einen angemessenen Platz im Medizinhistorischen Museum Hamburg gefunden. Dort hängt es in dem seinerzeit für Fraenkel geplanten, ehemaligen Pathologiegebäude auf dem Gelände des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Im Stadtteil Barmbek-Nord wurde die Fraenkelstraße nach Eugen Fraenkel benannt.
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Benjamin Kuntz, Dr. P.H. (Public Health), geb. 1985, Gesundheitswissenschaftler am Robert Koch-Institut in Berlin. Mitglied der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Medizin. Autor mehrerer Biographien von jüdischen Ärzten aus Berlin.
Benjamin Kuntz, Eugen Fraenkel: der bedeutendste Pathologe Hamburgs, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 21.12.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-269.de.v1> [05.10.2024].