Auf sechs Seiten aus einem Notizblock notierte die Kindergärtnerin Eva Warburg die Namen einiger Kinder des von ihr geführten Tagesheims für jüdische Kinder im Hamburger Jungfrauenthal 37, die angesichts der zunehmenden Verfolgung Ende 1938 ins Ausland evakuiert werden sollten. Der Zettel befindet sich heute im Archiv der zentralen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Laut einem handschriftlichen Verweis in demselben Quellenbestand notierte ihre Mutter Anna Warburg nach der Abreise ihrer Tochter nach Schweden noch die Ziele der Verschickung auf dieser Liste. Auf dem hier dargestellten Ausschnitt sind die Namen zweier Geschwisterpaare und eines Jungen notiert, die nach Schweden gebracht werden sollten.
Sie sind vier von etwa einem Dutzend Kindern, bei denen Schweden als Reiseziel angegeben ist. Insgesamt wurden wohl etwa 500 deutsche und österreichische jüdische Kinder im Rahmen von „Kindertransporten“ nach Schweden gerettet. Diese wurden in enger Zusammenarbeit deutscher und österreichischer jüdischer Hilfsorganisationen mit der Jüdischen Gemeinde Stockholm (Mosaiska församlingen i Stockholm) organisiert. Die Kinder sollten in Schweden in Sicherheit gebracht und ihre Eltern bei der Suche nach Fluchtmöglichkeiten um eine Sorge erleichtert werden. Das Ziel war die Wiedervereinigung mit den Eltern im Exil.
Bereits im Frühjahr 1933 suchten Emissäre deutsch-jüdischer Hilfsorganisationen Kontakt zu den jüdischen Gemeinden in Schweden, um sich nach möglichen Hilfsangeboten zu erkundigen und eine nachhaltige Flüchtlingsarbeit in Schweden zu koordinieren. Dort hatten sich gleichzeitig Hilfskomitees in den jüdischen Gemeinden gegründet. Innerhalb weniger Monate etablierten sich Kommunikationswege, die schnell auf deutscher Seite durch den Zentralausschuß für Hilfe und Aufbau in Berlin und in Schweden durch das Hilfskomitee in der jüdischen Gemeinde in Stockholm (Mosaiska församlingen i Stockholm) monopolisiert wurden. Die führenden Vertreter der größten jüdischen Gemeinde Schwedens übernahmen, wie schon in den Jahrzehnten zuvor und von der Regierung gefördert, die Sprecherrolle für die schwedischen Jüdinnen und Juden.
Weder diese noch die deutsch-jüdischen Hilfsorganisationen sahen Schweden als zukünftiges Exilland für eine größere Anzahl jüdischer Flüchtlinge. Schweden war bis ins 20. Jahrhundert ein Auswanderungsland gewesen und die jüdische Gemeinschaft war relativ jung und klein. Im Einverständnis und auf Bitten des Zentralausschusses und später der Reichsvertretung der deutschen Juden konzentrierte sich das Hilfskomitee in Stockholm darauf, die Hilfsgelder der jüdischen Gemeinden Schwedens für Hilfsangebote der zionistischen Emigration nach Palästina zu verwenden. Deutsche und schwedische jüdische Funktionäre stimmten darin überein, dass das bevölkerungsarme und noch weitgehend landwirtschaftlich geprägte Schweden mit seiner kleinen jüdischen Gemeinschaft kein Ziel für eine Massenflucht sein könnte. Sie befürchteten, dass eine größere Gruppe Flüchtlinge die Integration und Sicherheit der schwedisch-jüdischen Minderheit bedrohen würde. Solche Ängste wurden durch eine flüchtlingsfeindliche Presse und Politiker in Schweden befeuert. Schwedische Behörden bestanden darauf, dass kein Flüchtling das schwedische Sozialsystem belasten dürfe.
So wurden durch schwedisch-jüdische Spender Patenschaften für die Kinder- und Jugendalija übernommen, mit deren Hilfe die Kosten für die Reise, die von der britischen Mandatsmacht geforderten Garantiegelder und die Aufenthaltskosten im Kibbuz Ben Schemen bezahlt wurden. Hinzu kam ein wachsendes Programm für Ausbildungsplätze auf schwedischen Bauernhöfen im Rahmen der Hachschara. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten nach ihrer Ausbildung ebenfalls nach Palästina emigrieren. Immer öfter wurde ein Teil der gesammelten Hilfsgelder aber deutschen, und später auch österreichischen, Jüdinnen und Juden bei der Bewältigung der Reisekosten auf ihrem Transit durch schwedische Häfen nach Übersee und für sogenannte Landungsgelder und Visagebühren in den endgültigen Fluchtländern zur Verfügung gestellt. Nach wie vor schätzte die schwedisch-jüdische Gemeinschaft die gesetzlichen Möglichkeiten und ihre eigenen finanziellen Kapazitäten als sehr gering ein, da für jede einreisende Person die Lebenshaltungskosten in Schweden gesichert sein mussten und die schwedischen Behörden das Ausländergesetz verschärft hatten. Der Novemberpogrom 1938 hatte aber auch die Schwedinnen und Schweden erschüttert. Das Hilfskomitee konnte mit einem Entgegenkommen der Regierung für ein geregeltes Quotensystem für einen zeitweiligen Aufenthalt jüdischer Flüchtlinge, und insbesondere von Kindern rechnen.
Die jüdische Gemeinde in Stockholm hatte Eva Warburg im September 1938 eingeladen, nach Schweden zu kommen. Das Hilfskomitee schätzte ihre Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendarbeit und der zionistischen Flüchtlingshilfe und hoffte, dass Warburg sie in Schweden für die Gemeinde fortsetzen würde. Eva Warburg, die durch ihre in Schweden geborene Mutter, die bekannte Pädagogin Anna Warburg, über schwedische Sprachkenntnisse verfügte, hinterließ mit ihrer Arbeit in der Kinder- und Jugendalija in Schweden tatsächlich bleibende Eindrücke.
Ihr Vater Fritz Warburg war Teilhaber des Hamburger Bankhauses M.M. Warburg und Bruder des Leiters des Hilfsvereins Max Warburg. Ihm gelang 1939 nach zeitweiliger Inhaftierung die Ausreise nach Schweden. Zusammen mit seiner schwedischstämmigen Frau ließ er sich in Stockholm nieder. Von dort aus kümmerte er sich weiterhin um die Belange des Jüdischen Krankenhauses in Hamburg und verhalf mit seinem Privatvermögen vielen Menschen zur Flucht aus Deutschland.
Es heißt, Fritz Warburg habe bei seiner Flucht aus Deutschland unzählige Kinder mitgenommen und Eva Warburg habe die Kinder ihres Tagesheims nach Schweden gerettet. Solche Interpretationen sind aber nicht vollständig. Eine Überprüfung der Namen mit dem Vermerk „Schweden“ aus der vorliegenden Quelle in der Kartei der Kinderabteilung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm fördert keine Hinweise auf eine größere Einzelaktion zutage. Ein Kind wurde laut der zugehörigen Karteikarte von Eva Warburg „empfohlen“, zwei durch den „Jüd. Rel. Verband Hamburg“. Die Anreisedaten der Kinder dieser Quelle, und in der Tat fast aller Kinder aus der Kartei der Kinderabteilung, unterscheiden sich und die Kinder wurden an unterschiedlichen Orten in Schweden bei Familien untergebracht, nur ein Kind ging sofort in ein von Eva Warburg geleitetes Jugendalija-Heim.
Alle in der Quelle erwähnten Kinder wurden in die allgemeine Kinderquote der Gemeinde integriert. In keiner weiteren bislang gefundenen Quelle wird eine größere Anzahl Kinder in einer einzelnen Rettungsaktion vermerkt. Bei der Gesamtzahl der Quote der Gemeinde wären zehn Kinder – und erst recht 100, wie dies für ihren Vater kolportiert wurde – genug, um in den Quellen als Sondergruppe Erwähnung zu finden. Es lässt sich zu diesem Zeitpunkt also allenfalls der Schluss ziehen, dass Eva Warburg einen Teil ihrer Schützlinge nach Schweden gebracht haben mag, indem sie diese der Gemeinde empfahl. Allerdings folgt daraus auch, dass ebenso viele andere Kinder nicht in die Quotenliste aufgenommen wurden. Für jedes von Eva Warburg nach Schweden vermittelte Kind blieb in der Logik der Quoten aus jener Zeit ein anderes zurück.
In Schweden arbeiteten die Warburgs weiter an der Rettung von Menschen aus Deutschland und der Betreuung der Geflüchteten. Eine ihrer wichtigsten Errungenschaften war die Einrichtung eines Jugendalija-Heims in Hälsinggården etwas außerhalb der nordschwedischen Stadt Falun im Juni 1939. Die deutschen und österreichischen Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren sollten hier eine landwirtschaftliche Ausbildung, allgemeine Bildung, handwerkliche Qualifikationen und eine zionistische Einstellung erwerben. Wie bei anderen Projekten standen die beiden Motivationen, Kinder im zionistischen Geist auszubilden und sie gleichzeitig aus Deutschland herauszubringen, gleichberechtigt nebeneinander. Es war geplant, dass sie später gemeinsam nach Palästina auswandern würden.
Auch die später unter dem Vornamen Peggy bekannt gewordene Schauspielerin und Autorin Ruth Parnass ist auf dem Notizzettel von Eva Warburg mit dem Verweis „Schweden“ aufgeführt. Laut der Karteikarte der Kinderabteilung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm wurde die 11-Jährige in den folgenden Jahren bei zehn unterschiedlichen Gasteltern untergebracht. Möglicherweise war die Auswahl der Gasteltern in dieser Situation durch die Kinderabteilung nicht sorgfältig genug durchgeführt worden oder aber die traumatisierte Ruth hatte Anpassungsschwierigkeiten. Zudem wurde sie von ihrem vierjährigen Bruder Gert getrennt, der in einem Kinderheim untergebracht wurde. Auf Gert Parnass‘ Karteikarte in der Kinderabteilung der Stockholmer jüdischen Gemeinde ist vermerkt, dass er von „Fräulein Warburg“ „empfohlen“ worden sei.
Im Oktober 1941 endete die legale Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Bis dahin war eine unbekannte Zahl deutscher und österreichischer Jüdinnen und Juden über Schweden in sichere Exilländer geflüchtet. Allerdings waren die Möglichkeiten zur Weiterreise von Schweden seit dem Kriegsbeginn beträchtlich eingeschränkt. Nur noch vereinzelt gelangten jüdische Flüchtlinge auf Schiffen nach Großbritannien. Die große Mehrheit der Flüchtlinge, die Pioniere der Hachschara und die Kinder strandeten in Schweden. Letztere blieben Mündel des Hilfskomitees und wie viele der Flüchtlinge eine längere Zeit auf Hilfsleistungen der Gemeinden angewiesen. Etwa 1.350 Menschen hat die Gemeinde in den Jahren 1938 bis 1941 die Flucht nach oder den Transit durch Schweden mittels der Quoten ermöglicht. Darunter waren mindestens 500 Kinder. Nicht gezählt wurden die wahrscheinlich tausenden Menschen, denen das Hilfskomitee bei der Durchreise geholfen hat und diejenigen, denen die schwedischen Jüdinnen und Juden (und auch einige Nichtjüdinnen und Nichtjuden) individuell finanziell halfen.
Eva Warburg bemühte sich auch nach dem Ausreiseverbot für Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich darum, die Jugendalija fortzuführen und Kinder, deren Eltern bereits deportiert oder geflohen waren, nach Schweden zu holen. Ihre schwedischen Pfleglinge unterstützte sie weiterhin. So versuchte sie mit Hilfe des Jischuw sowie britischer und amerikanischer Hilfsorganisationen eine Gruppe von mehr als 100 Jugendalija-Angehörigen auf dem Landweg nach Palästina zu bringen. Aber alle Bemühungen scheiterten an den Hürden der Bürokratien der Transitländer. Im Frühjahr 1941 gelang es ihr, zwei kleinere Gruppen ins britische Mandatsgebiet zu bringen. Die anderen Kinder der Kinderabteilung blieben die Dauer des Krieges über in Schweden, nur vereinzelt gelang es, sie unter größten Mühen in Großbritannien, Palästina oder den USA mit Verwandten zu vereinen. Ruth Parnass und ihr Bruder reisten im März 1945 zu ihrem Onkel nach Großbritannien.
In den wenigsten Fällen gelang es nach der Befreiung, noch überlebende Eltern oder Verwandte zu finden. Ein Teil der Kinder schloss sich den jüdischen Überlebenden aus den verschiedenen Rettungsaktionen Schwedens in den letzten Kriegsmonaten an und emigrierte in den neugegründeten Staat Israel. Ein Großteil lebte sich in Schweden ein und wurde zu schwedischen Staatbürgerinnen und Staatsbürgern. Peggy Parnass beschrieb ihre Zeit in Schweden später oft als traumatisch und erwähnte die jüdische Gemeinde, deren Mündel sie war, nicht. So ging es einem Teil der Kinder. Der Verlust aller Angehörigen und die manchmal nicht angemessene Behandlung in überforderten Pflegefamilien hinterließen tiefe seelische Wunden.
Der unscheinbare Notizzettel aus dem Nachlass von Eva Warburg steht stellvertretend für die spezifische Geschichte der Rettung jüdischer Kinder aus dem Deutschen Reich mittels der sogenannten Kindertransporte. Diese Rettungsaktionen waren das Ergebnis einer transnationalen Hilfsarbeit jüdischer Organisationen und dennoch immer auch das Resultat des ungeheuren persönlichen Engagements einzelner Akteurinnen und Akteure. Ihr Ziel war die Rettung von Menschenleben und dennoch sind die Kindertransporte mit einer ungeheuren Tragödie verbunden. Kaum eines der Kinder sah seine Eltern wieder, Traumatisierungen während der Trennung prägten die Überlebenden ihr Leben lang und die Auswahl welches Kind gerettet wurde, war oft nicht an objektive Kriterien, sondern an Netzwerke oder Zufälle gebunden.
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Clemens Maier-Wolthausen, Dr. phil., ist Historiker und ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Seine Forschungsinteressen sind die Geschichte des Nationalsozialismus, die Erinnerungskulturen daran, skandinavische Zeitgeschichte und die Geschichte der Naturkunde und Zoologischer Gärten in Deutschland.
Clemens Maier-Wolthausen, Kindertransporte und transnationale Netzwerke der Hilfe für Jüdinnen und Juden, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 13.01.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-263.de.v1> [21.11.2024].