Der Inhalt des Aktenvermerks vom 24.11.1938 gehört in die Reihe der erzwungenen Veränderungen, von denen die Talmud Tora-Schule durch die Gesetzgebung der Nationalsozialisten betroffen war. Arthur Spier, der Direktor der Talmud Tora-Schule und „Bevollmächtigter des Israelitischen Gemeindeverbandes in Hamburg für Schulfragen“, war am 24.11.1938 aufgefordert worden, zur Aufnahmepraxis an der Talmud Tora-Schule Stellung zu nehmen, nur neun Tage nach dem Rundschreiben von Senator Karl Witt die „Entlassung der Juden aus deutschen Schulen“ betreffend. In diesem Schreiben „An die Leitungen aller öffentlichen und nichtöffentlichen Schulen der Hansestadt Hamburg“ vom 15.11.1938 hatte Witt sich auf die Anordnung des „Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“, Bernhard Rust, bezogen, die verfügt hatte, dass „Juden deutscher Staatsangehörigkeit der Besuch deutscher Schulen nicht mehr gestattet“ sei. Dem Hinweis, dass sie nur noch jüdische Schulen besuchen dürften, wurde hinzugefügt, dass in Hamburg dafür die Talmud Tora-Schule und die Israelitische Mädchenschule in Frage kämen. Das bedeutete, dass die Talmud Tora-Schule noch mehr Schüler aufnehmen sollte, die sie von ihren Satzungen her ablehnte, die aber auch der Talmud Tora-Schule oft ablehnend gegenüber standen, etwa, weil sie sich nicht als Juden verstanden. Im Aktenvermerk wird die Sicht der Talmud Tora-Schule deutlich, ebenso, welcher Druck auf sie ausgeübt wurde.
Die Quellen, die das Aufnahmeverfahren und Schicksal von Hermann Kaftal belegen, veranschaulichen exemplarisch die Situation der christlichen Kinder, die von den Nationalsozialisten zu Juden deklariert wurden, und ihrer Familien. Krankheit, Privatunterricht und Vorbereitungen für eine Auswanderung wurden vermutlich angeführt, um diesen Schulbesuch hinauszuzögern oder zu vermeiden. Das Eintreten Frau Kaftals gegen die Entlassung des Lehrers Richard Levi im Frühjahr 1941 weist aber darauf hin, dass Hermann gern in dessen Klasse gegangen ist.
Ein Beispiel, wie abwegig es liberalen Juden erschien, ihr Kind auf eine orthodoxe jüdische Schule zu schicken, ist die Gründung des „Blankeneser Schulzirkels“ durch Rahel Liebeschütz. Rückblickend stellte Dr. Max Plaut, Vorsitzender des Jüdischen Religionsverbandes von Groß-Hamburg von 1938–1943, in einem vermutlich 1971 stattgefundenen Interview mit Joseph Walk allerdings die Schulbesuchsfrage zwischen Orthodoxen und Liberalen in der Gemeinde als nahezu konfliktfrei dar.
Zum Hintergrund des Aktenvermerks gehört auch, dass sich die Deutsch-Israelitische Gemeinde in Hamburg bereits im September 1933 zur Neugründung weiterer jüdischer Schulen und zur Einrichtung anderweitiger Schulkurse ablehnend geäußert hatte, da sie den Existenzkampf der Talmud Tora-Schule und der Mädchenschule verschärften. Nach dem „Erlass des Reichserziehungsministers vom 2. Juli 1937“ gewann auch der Aspekt der Religionszugehörigkeit zunehmend an Bedeutung. Da nun auch sogenannte „jüdische Mischlinge“ jüdische Schulen besuchen durften, wie es in dem entsprechenden Erlass heißt, und diese der „Kultur- und Schulbehörde“ unverzüglich zu melden waren, kam es zu Problemen bei der Aufnahme von Schülern. Hierüber gibt ein Aktenvermerk der Unterrichtsbehörde vom 3.11.1937 Aufschluss. In der Talmud Tora-Schule – als orthodox-jüdischer Religionsschule – galten alle Schüler als Juden. Spier erläuterte die Diskrepanz zwischen der halachischen Bestimmung, wer als Jude gelte, und dem Reichsbürgergesetz. Gesetz, welches am 15.09.1935 von den Nationalsozialisten verabschiedet wurde und welches den Juden sämtliche politischen Rechte nahm. Um Konflikten mit der Gemeinde vorzubeugen, wurden bei der Aufnahme von Schülern absichtlich keine Ermittlungen darüber angestellt, ob die Schüler „Volljuden“ oder „Mischlinge“ seien. Sie nahmen am Religionsunterricht teil, ohne Juden im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes zu sein. Mit der Teilnahme am Religionsunterricht galten sie jedoch gemäß dem Reichsbürgergesetz Gesetz, welches am 15.9.1935 von den Nationalsozialisten verabschiedet wurde und welches den Juden sämtliche politischen Rechte nahm.als zum Judentum übergetreten. Viele Schüler verließen daraufhin die Schule, was die Talmud Tora-Schule aus finanziellen Gründen mit Sorge erfüllte. Die aufgrund einer entsprechenden Anfrage des Direktors Spier aufgenommenen Beratungen der Landesunterrichtsbehörde regelten daraufhin, dass die Schule sich von jedem Schüler eine Bescheinigung über seine Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft vorlegen ließ (vergleiche Aktenvermerk vom 28.12.1937). Die Talmud Tora-Schule stand außerdem noch von den Kultusverbänden unter Druck, die auf den Unterricht stärkeren Einfluss zu nehmen versuchten. Alle Forderungen von dieser Seite wurden abgelehnt.
Wenn Spier gemäß dem Aktenvermerk vom 24.11.1938 auf der satzungsgemäßen ausschließlichen Aufnahme von Schülern, bei denen er das ‚ernstliche‘ Bekenntnis zum jüdischen Glauben voraussetzte, beharrte, so war dies allerdings schon 1937 nicht mehr zwingend gewesen (vergleiche Hinweis auf Aktenvermerk vom 3.11.1937). Die Ablehnung von christlichen Schülern war dennoch konsequent. Dass die Talmud Tora-Schule immer auch christliche Lehrer eingestellt hatte, mag in diesem Zusammenhang erstaunen; zuletzt waren dies Paul Niemeyer, der die Fächer Deutsch und Geschichte unterrichtete, und der Sportlehrer Hans Mähl. Der Schulvorstand hatte bei der Aufnahme der christlichen Lehrer zwar immer wieder Bedenken angeführt, sich aber nicht durchgesetzt; er befürchtete den Verlust der jüdischen Identität der Schule, wie das Beispiel der Stiftungsschule von 1815 zeige, die Christen aufgenommen hatte. Das nachträgliche Zugeständnis Spiers, auch christlich getaufte „Juden“ unter Befreiung vom Religionsunterricht an der Talmud Tora-Schule aufzunehmen, entstand zweifellos unter Druck.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Christiane Pritzlaff, Dr. phil., studierte Germanistik und Ev. Theologie in Bonn und Hamburg. Sie promovierte über Thomas Mann und hat zahlreiche Veröffentlichungen gemacht zu jüdischen Schüler- und Lehrerschicksalen, zur jüdischen Volksschule in Lübeck, sowie zuletzt zu Jean Pauls jüngster Tochter Odilie, zu Wolfgang Borchert und zur Reformation. Ihre jüngste Veröffentlichung ist ein Beitrag zu einem fächerübergreifenden Online-Projekt zur Reformation (http://reformation-reloaded.net/). Sie war als Gymnasiallehrerin, in der Lehrerfortbildung und in der Lehrplanarbeit tätig und bot an der Universität Hamburg Lehrveranstaltungen zur jüdischen Schulgeschichte und zum Thema "Holocaust" an.
Christiane Pritzlaff, Zur Aufnahme getaufter Schülerinnen und Schüler an der Talmud Tora-Schule in Hamburg seit Ende 1938, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 13.02.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-178.de.v1> [06.12.2024].