Listen, die die Ärzteschaft in „Juden“ beziehungsweise „Nicht-Arier“ und „Arier“ unterschieden, wären noch drei Jahre zuvor kaum denkbar gewesen. Zur Zeit der Weimarer Republik lebten und arbeiteten jüdische Ärzte mit und neben ihren nichtjüdischen Kollegen, sowohl als Niedergelassene als auch an den Hamburger Krankenhäusern und an der Medizinischen Fakultät. Unterschiedliche religiöse Bekenntnisse spielten im ärztlichen Alltag keine Rolle. Aus vormals konfessionell gebundenen Krankenhäusern waren städtische Einrichtungen geworden, an denen sich christliche und jüdische Patienten gleichermaßen behandeln ließen.
In Hamburg war bis zum Beginn nationalsozialistischer Herrschaft der Anteil jüdischer Ärzte auf etwa ein Viertel angewachsen. Die Liste nennt 150 Ärzte, die nach der nationalsozialistischen Terminologie als Juden galten, rund 10 Prozent der Hamburger Ärzteschaft. Nicht gelistet sind die Ärzte, die als „Halb-“ oder „Vierteljuden“ ebenfalls durch Diskriminierung und Beschneidung ihrer beruflichen Rechte betroffen waren. Auch fehlen auf der Liste die bereits in den ersten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft ausgewanderten Ärzte. Nach der Öffnung der Universitäten für Juden im Laufe des 18. Jahrhunderts hatten sich Juden in steigenden Zahlen für ein Medizinstudium entschieden. Hatte es bereits eine lange Tradition jüdischer medizinischer Gelehrter in Europa gegeben, so spielten Juden in der sich professionalisierenden Medizin des 19. Jahrhunderts eine zunehmend starke Rolle. Die starke Präsenz und Expertise von Juden im Arztberuf lässt sich nicht auf eine Formel reduzieren, die von der Antike bis in die Moderne sowohl die große Zahl als auch den überdurchschnittlichen Erfolg der jüdischen Ärzte erklären könnte. Ein Grund für die traditionell starke Verbindung von Judentum und Arztberuf sind religiöse Grundlagen des Judentums. Im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit waren jüdische Ärzte oft auch Rabbiner, zumal die Ausübung einiger religiöser Vorschriften, wie die Beschneidung, medizinische Kenntnisse voraussetzte. Die häufige personelle Verbindung von Arzt und religiösem Gelehrten und damit auch die Verbindung von Religion mit dem Heilen ist einer der Gründe, weshalb Ärzte und andere Heilberufe im Judentum einen hohen Status genossen und die Kunst des Heilens als etwas besonders Verdienstvolles galt. Die traditionell hohe Achtung der Ärzte im Judentum geht dabei auch auf die vielen Verweise auf die Heilkunst im Talmud und in der Tora zurück. Ein Hauptgrund für die auch in der Neuzeit besonders starke Verbindung von Judentum und Medizin war die Möglichkeit der gesellschaftlichen Integration durch den Arztberuf. Mit der Emanzipation im 19. Jahrhundert wuchs der Wunsch, einen Platz im deutschen Bürgertum zu finden. Für Juden waren viele traditionelle Berufswege des Bürgertums verschlossen, wie zum Beispiel eine Beamtenposition. Der Beruf des Arztes bot hingegen als selbständige Tätigkeit eine relativ verlässliche Option, die eigene soziale Position zu verbessern. Gleichzeitig eröffnete die Medizin als Naturwissenschaft Juden im Prozess der kulturellen und religiösen Neuorientierung eine Möglichkeit, Religiosität und moralische Integrität in eine neue, säkularisierte Form des Selbstverständnisses zu transportieren. Die Haskala, die jüdische Aufklärung, hatte das Interesse an den Naturwissenschaften gestärkt. Bildung wurde zu einem wesentlichen Teil jüdischer Identität. Die jüdischen Ärztinnen auf der Liste gehörten zur ersten und zweiten Generation von Ärztinnen in Deutschland überhaupt. Erst zur Jahrhundertwende hatten sich die Universitäten auch Frauen geöffnet. Es waren überdurchschnittlich viele Jüdinnen, die Ärztinnen wurden und damit zu den ersten akademisch gebildeten Frauen gehörten. Die Physiologin Rahel Liebeschütz-Plaut hatte sich 1923 als erste Frau an der medizinischen Fakultät Hamburg habilitieren können.
Mit dem Beginn nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland begann eine schnelle berufliche Entrechtung jüdischer Mediziner. Den ärztlichen Organisationen kam eine nicht zu unterschätzende Verantwortung in der Entrechtung der verfolgten Ärzte zu, nämlich die Erfassung und Verwaltung. Sowohl die Ärztekammern als auch die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) übernahmen in ihrem Verzeichniswesen die rassistischen Kategorisierungen in „nicht arische“ und „arische“ beziehungsweise „jüdische“ und „nicht jüdische“ Ärzte, wie sich im Titel der Quelle bereits zeigt. In den intern geführten Karteien wurden Davidsterne auf die Karteikarten der „jüdischen Ärzte“ gestempelt. Die Entrechtung der jüdischen Ärzte nach 1933 verlief in unterschiedlichen Phasen: In der Konsolidierungsphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1933/34 erfolgte ein schneller Ausschluss der Kassenärzte und Ärzte im öffentlichen Dienst, die fortan als „nicht arisch“ stigmatisiert waren. Auch die Medizinische Fakultät der Universität Hamburg versetzte 16 Lehrende wegen ihrer „jüdischen Herkunft“ in den Ruhestand. Auf der Liste finden sich unter anderem die Wissenschaftler Walter Griesbach, Viktor Kafka, Hermann Josephy, Walter Kirschbaum, alle langjährige und verdiente Fakultätsmitglieder. Viele der Entlassenen waren noch für eine Weile niedergelassen tätig, bevor die meisten Deutschland verließen. In dieser ersten Phase waren besonders die Jungen und am wenigsten Vermögenden unter den Ärzten betroffen. Sie emigrierten bereits in der Frühphase. Aufgrund von Ausnahmebestimmungen beim Entzug der Kassenzulassung, die vor allem die Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges ausnahm, konnte jedoch die große Mehrheit der Ärzte zunächst weiter praktizieren und auch die Kassenzulassung behalten. Die zweite Phase der Verdrängung verlief schrittweise bis 1938 und nicht abrupt wie in anderen Berufsgruppen. Der Erlass der „Nürnberger Gesetze“ 1935 stellte eine weitere Zäsur dar. Nicht nur, weil die Juden ab sofort einer rassistischen Sondergesetzgebung unterlagen, verschärfte sich ihre Lebens- und Arbeitssituation, sondern auch, weil sich die NSDAP verstärkt bemühte, „arische“ Patienten und „nicht arische“ Ärzte zu trennen und so die Gruppe jüdischer Ärzte vom Markt zu verdrängen. In diesem Zusammenhang ist auch die Zusammenstellung und Verbreitung der „Liste jüdischer Ärzte“ zu sehen. Die Mehrheit der verfolgten Ärzte konnte trotz der immer schwierigeren und zunehmend demütigenden Bedingungen bis zum Herbst 1938 weiter praktizieren. Mit dem Jahr 1938 begann eine neue Phase der Verfolgung, in der die Bedrohung existenziell wurde. Binnen Jahresfrist standen nahezu alle jüdischen Ärzte und Ärztinnen unter Berufsverbot und waren von jeder weiteren ärztlichen Betätigung in Deutschland ausgeschlossen. Mit der endgültigen „Ausschaltung“ der verfolgten Ärzte war die Verdrängung aus dem Berufsleben abgeschlossen. Was folgte, war eine schnell eskalierende gewaltsame Verfolgung und Vertreibung. Eine große Zahl der männlichen „nicht arischen“ Ärzte wurde im Rahmen der Novemberpogromein das KZ Sachsenhausen verschleppt. In den Wochen der „Schutzhaft“ wurde dem großen Teil der Betroffenen klar, dass sie keine Zukunft mehr in Deutschland haben würden. Auf der Liste findet sich zum Beispiel der Kinderarzt Julius Bauer, der bis Dezember 1938 in Sachsenhausen inhaftiert blieb und dort schwer misshandelt wurde. Nach seiner Entlassung floh er zunächst in die Niederlande und von dort weiter nach Großbritannien. Nach diesem traumatischen Herbst setzte eine Auswanderungswelle ein, mit der die meisten der verfolgten Ärzte Hamburg für immer verließen. Einigen wenigen Ärzten gestattete die nationalsozialistische Führung weiter zu arbeiten, da Juden nicht mehr von nichtjüdischen Ärzten behandelt werden durften. Diese Ärzte hatten den diskreditierenden Titel „Krankenbehandler“ zu führen.
Die gelisteten Ärzte und Ärztinnen mit
ihren Lebensgeschichten bilden die Geschichte jüdischer Medizin und ihrer
Zerstörung nach 1933 ab. Gleich der erste
Arzt auf der Liste, Julius
Adam, personifizierte als Gründer der
Kassenärztlichen Vereinigung
Hamburgs die Generation jüdischer
Ärzte, die mit überdurchschnittlichem Engagement die
Hamburger
Ärzteinstitutionen aufgebaut und geprägt hatten. Geboren im damals preußischen
Lissa (heute
Leszno)
hatte sich Adam
1888 in der Wilhelminenstraße 56
(heute Hein-Hoyer-Straße)
auf St. Pauli
niedergelassen. Er war schon 1895
Gründungsmitglied der Hamburger Ärztekammer
gewesen. Später machte er es zu seiner Sache, für eine bessere Organisation der
Ärzte im entstehenden Krankenkassensystem zu sorgen.
1919 initiierte er die Schaffung der Vereinigung der Kassenärzte
Groß-Hamburgs und verblieb bis 1925 im
Vorstand. Nachdem er 1935 seine Praxis aufgegeben
hatte, versuchte er, in die USA auszuwandern. Nach einer Denunziation wurde er jedoch
verhaftet und für ein Jahr im KZ
Fuhlsbüttel inhaftiert. Als 80-jähriger deportierte man ihn
schließlich im Juli 1942 nach Theresienstadt, wo er am
28.10.1942 umkam. Bei einer Reihe von
Ärzten auf der Liste ist das Israelitische Krankenhaus als Adresse angegeben. So bei Ilse Friedheim, Gerhard Gabriel, Ernst-Oskar
Friedländer oder Helmut Nathan. Das Israelitische Krankenhaus war eines der bedeutendsten jüdischen
Krankenanstalten Deutschlands. Der Aufstieg dieses Hauses fand in der
erfolgreichen Zeit der Verbürgerlichung der jüdischen Minderheit statt. Zum Ende
des 19. Jahrhunderts wurde das
Israelitische Krankenhaus in eine privatrechtliche Stiftung
umgewandelt, die von Patienten aller Konfessionen in Anspruch genommen werden
konnte. Das Krankenhaus befand sich an der
Eckernförderstraße, der heutigen Simon-von-Utrecht-Straße, mitten
im Arbeiter- und Hafenviertel St. Pauli. Nach 1933 arbeitete eine Reihe von jüdischen
Ärzten und Ärztinnen am Israelitischen Krankenhaus, nachdem sie ihre Anstellung oder ihre
Kassenzulassung verloren hatten. So kam zum Beispiel der Professor für
Chirurgie, Arthur
Israel, nach seiner Relegation an der Universität Berlin für kurze
Zeit an das Israelitische Krankenhaus in Hamburg. So wurde das
Hospital zu einer letzten Möglichkeit beruflicher Betätigung, zugleich wurde es
auch für die immer kleiner werdende jüdische Gemeinde zu einem letzten Refugium, wo sie medizinische
Versorgung bekam. Im Oktober 1941 begannen die
Deportationen aus Hamburg in die Todeslager und Gettos. Die am Krankenhaus
verbliebenen Ärzte mussten die Transportfähigkeit derer
feststellen, die sich auf den Deportationslisten befanden. Die
Ärzte und Ärztinnen, die sich
nicht mehr durch eine Emigration hatten retten können, wurden ebenfalls in die
Gettos und Todeslager verschleppt. Von 38 Ärzten und sechs
deportierten Ärztinnen aus Hamburg überlebten nur
vier. Einige Ärzte blieben durch ihre nichtjüdischen
Ehepartner vor einer Deportation verschont oder praktizierten als „Mischlinge“ bis zum
Kriegsende weiter. Eine lange und fruchtbare Tradition jüdischer
Ärzte in Hamburg war vorerst
erloschen.
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Anna Villiez-Kupisch, Dr. phil., geb. 1974, ist Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule in Hamburg. Zu ihren Forschungsinteressen zählen: Medizingeschichte in Kolonialzeit und Nationalsozialismus, Wissenschaftsgeschichte, Provenienzforschung und die Entstehungsgeschichte anatomischer, ethnologischer und anthropologischer Sammlungen.
Anna von Villiez, Jüdische Ärzte und Ärztinnen in Hamburg und ihre Entrechtung während des Nationalsozialismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-156.de.v1> [21.11.2024].