Die Kunstförderin Ida Dehmel (1870–1942) führte 1936 ein Tagebuch über ihre Weltreise an Bord des Kreuzfahrtschiffes „Reliance“. Am 11.6.1936, nach der Rückkehr in ihr Haus in Blankenese, notierte sie einen Nachtrag. Auf dieser letzten Seite beschreibt sie das Glücksgefühl, das sie auf dem Meer empfand und thematisiert den für sie wesentlichen Unterschied zum vertrauten Land. Zum Zeitpunkt der Niederschrift hatte die Reichsschrifttumskammer Ida Dehmel eine eigene schriftstellerische Tätigkeit bereits verboten. Von dem kurzen Tagebuch, das über Zielorte der sechsmonatigen Reise berichtet, existieren mehrere maschinenschriftliche Exemplare auf dünnem Papier, vermutlich Abschriften eines handschriftlichen Originals, die in marmorierte Deckel gebunden sind und in privaten Kreisen verblieben. Seereisen waren für die aus jüdischem Elternhaus stammende Kunstfreundin Ida Dehmel eine Möglichkeit, der Ausgrenzung im nationalsozialistischen Hamburg zumindest auf Zeit zu entfliehen und sich abzulenken. Emigration kam für sie nicht in Betracht. Ihr Nachtrag im Tagebuch ist Zeugnis einer Vergnügungsreise im Angesicht der Gefahr.
Ida Dehmel (1870–1942) war eine bedeutende Kunstförderin, Frauenrechtlerin und Wohltäterin, die sich auf vielfältige Weise weit über Hamburg hinaus engagierte. Aus Bingen am Rhein stammend hatte sie bereits einen fortschrittlichen Salon in Berlin geführt, bevor sie sich nach längeren Reisen 1901 in Blankenese bei Hamburg niederließ. Als Frau und Muse des damals berühmten Dichters Richard Dehmel (1863–1920) stand sie mitten in einem europäischen Netzwerk namhafter Künstler der Zeit. Ihre Wohnung und ab 1912 das gemeinsame Künstlerhaus in Blankenese wurden zum Treffpunkt überregional bedeutender Kulturschaffender, darunter Karl Schmidt-Rottluff, Max Liebermann, Peter Behrens, Samuel Fischer, Alma Mahler, Conrad Ansorge, Max Reger, Julie Wolfthorn, Richard und Elena Luksch, Walther Rathenau, Gerhart Hauptmann, Alfred Mombert und Stefan Zweig. Ida Dehmel führte eine Werkstatt für künstlerische Perlarbeiten, war Mitbegründerin des Hamburger Frauenclubs, kämpfte im Norddeutschen Verband für das Frauenstimmrecht und leitete mit Dr. Rosa Schapire den Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst. Nach dem Tod Richard Dehmels 1920 bewahrte sie ihr gemeinsames Haus unverändert als Erinnerungsort für den Dichter und veranstaltete dort Vorträge, Konzerte und Führungen. 1926 gründete sie die spartenübergreifende Künstlerinnenvereinigung GEDOK, die schon bald Ortsgruppen im ganzen Reich hatte. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft war Ida Dehmel ab 1933 nach und nach alle öffentliche Tätigkeit verboten. Ausgegrenzt und zunehmend einsam zog sie sich ins Dehmelhaus zurück. Zwischen 1933 und 1938 unternahm sie mehrere Urlaubsreisen auf See, kehrte jedoch immer wieder nach Blankenese zurück, wo sie sich 1942 alt und krank das Leben nahm. Zu ihrem Lebenswerk zählt auch das ihrem Mann Richard Dehmel gewidmete, in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrte Dehmel-Archiv, das ein Spiegel deutsch-jüdischer Kulturgeschichte der Zeit zwischen 1890 und 1920 ist.
Nach stürmischer Überfahrt stach Ida Dehmel am 9.1.1936 in New York mit dem Dreischrauben-Luxusdampfer „Reliance“ der Hamburg-Amerika Linie HAPAG in See. Das 188 Meter lange Schiff legte in 139 Tagen mehr als 60.000 Kilometer rund um den Erdball zurück, bevor es am 26.5.1936 wieder in New York einlief. Stationen der Reise waren unter anderem Trinidad, Rio de Janeiro, Kapstadt, Madagaskar, Bombay, Singapur, Java, Manila, Hong Kong, Shanghai, Japan, Hawaii, Honolulu, San Francisco, Panama und Kuba. In ihrem Reisetagebuch hielt Ida Dehmel Eindrücke von besuchten Orten fest. Speisekarten, Programmzettel und Ausflugsangebote zeugen von einem opulenten Leben an Bord. Es wurden reichlich Delikatessen aufgefahren, aufwändige Festabende veranstaltet und organisierte Besichtigungen angeboten. Ein solch komfortables Dasein als Teil einer großen Gesellschaft war Ida Dehmel in Hamburg nicht mehr möglich. Im Ausnahmezustand dieser luxuriösen Seereise kam der Ausschluss der Juden offenbar noch nicht zur Anwendung.
Ida Dehmels Beschreibungen der Reiseorte pendeln zwischen persönlichen Befindlichkeiten und kritischen Beschreibungen einerseits, zugleich staunt und schwärmt sie überwältigt von den Schönheiten der bereisten Länder. Diese detailreichen, lebhaften Erzählungen richtet sie an ihren 16 Jahre zuvor verstorbenen Ehemann, mit dem sie ihr Leben im Geiste weiter teilt. An Bord lernt sie den einige Jahre jüngeren Bildhauer Bernhard Sopher kennen, der zu einem treuen Reisegefährten wird. Sopher war nach seinem Berufsverbot aus Düsseldorf in die USA emigriert. An Bord der „Reliance“ bot er Werke zum Kauf an und führte Auftragsarbeiten für amerikanische Passagiere aus.
Über die Reisegesellschaft, in der sie sich an Bord bewegte, verliert Ida Dehmel (abgesehen von einigen Bemerkungen über Amerikanerinnen) nur wenige zusammenfassende Schlussätze. 82 Deutsche seien darunter gewesen, etwa 130 Amerikaner, 20 Engländer, 15 Franzosen, drei Dänen und ein Rumäne. „Von den Deutschen waren etwa 6 hundertfünfzigprozentige. Sie liessen sich mir nicht vorstellen, wir grüssten uns nicht. Das war bei ihnen kein Antisemitismus, denn mit dem Konfektionär N. aus Berlin und mit den anderen seinesgleichen standen sie auf bestem Fuss. Von vornherein haben die Amerikaner durch die Leichtigkeit ihres Umgangstones einen Vorsprung. Sie machen diese Reise, um sich zu vergnügen – von uns machen viele sie um sich selbst oder ihren Sorgen eine Weile zu entfliehen.“ (S. 25) Zu dieser Gruppe war wohl auch Ida Dehmel zu zählen, deren jüdische Herkunft auf der „Reliance“ anscheinend kaum eine Rolle spielte – zumindest in ihrem Reisetagebuch nicht.
Beim Verfassen des Nachtrags zu ihrem Reisetagebuch erinnerte Ida Dehmel sich an das erhebende Gefühl, das sie auf See verspürt hatte. In dieser Reisestimmung, so schrieb sie, sei alles möglich gewesen. „Alle Sinne, alle Seelenkräfte, alle Gefühlsmöglichkeiten, alle Aufnahmeorgane bereit.“ (S. 26) Zuhause in Blankenese war schon längst nicht mehr alles möglich. Ida Dehmel hatte den Vorsitz der von ihr gegründeten GEDOK abgeben müssen, sie durfte keine eigenen Schriften mehr veröffentlichen, Gäste des Dehmelhauses wurden bedroht, Kunstwerke und Bücher von Freunden galten als „entartet“, viele Weggefährten gingen ins Exil. So stand die farbenfrohe, lebendige Üppigkeit der Städte und Landschaften auf der Weltreise in deutlichem Gegensatz zum trostloser werdenden Alltag im nationalsozialistischen Blankenese. Umso mehr hat Ida Dehmel versucht, die Anblicke, die sich ihr auf der großen Reise boten, zu genießen: „Trinkt Ihr Augen, was die Wimper hält / Von dem gold’nen Überfluss der Welt. Die letzten beiden Zeilen von Gottfried Kellers "Abendlied"“ (S. 26) Zwar hätte sie die Reise sofort nach ihrer Rückkehr am liebsten erneut angetreten – ein Weg in die Emigration war sie nicht. Weder die Schönheit Rio de Janeiros noch die in Amerika ansässige Verwandtschaft nahm sie zum Anlass, sich in sicherer Distanz zur deutschen Judenfeindlichkeit niederzulassen.
Größer als der Genuss, ferne Länder zu sehen, war für Ida Dehmel das Glück, auf dem Meer zu fahren. „Wir leben auf dem Meer wie auf einer anderen Erde“ schrieb sie und spielte damit nicht etwa auf eine bessere Behandlung an Bord an, sondern erkennt im Wellenschlag des Meeres eine Lebendigkeit, die sie auf der gegenwärtigen Erde, „die stumm mit sich geschehen lässt“, nicht fand. Mehrere, leicht variierende maschinenschriftliche Abschriften des Reisetagebuchs sollten dafür sorgen, diese Gedanken festzuhalten und anderen zugänglich zu machen. Ein Exemplar fand sich im Dehmelhaus, das nach Ida Dehmels Tod von der Familie in ihrem Sinne erhalten wurde – im festen Glauben, dass die Stadt Hamburg eines Tages Verantwortung für diesen kulturellen Gedächtnisort übernehmen würde.
Ida Dehmels niedergeschriebene Reisegedanken zeigen, wie Deutsche jüdischer Herkunft versuchten, die dunklen Seiten ihres Daseins nach 1933 auszublenden und zumindest für eine begrenzte Zeit ein unbeschwertes Leben zu führen. Ein Schiff auf hoher See bot dazu einen besonders geschützten Raum, die geografische Entfernung zur Heimat auch innere Distanz.
Der Name des Dampfers, „Reliance“, bedeutet im Deutschen nicht nur Vertrauen und Verlass, sondern auch Abhängigkeit. So scheint er den Augenblick in mehrfacher Hinsicht widerzuspiegeln: Das Glück dieser unbeschwerten Zeit auf See war abhängig von Rahmenbedingungen, die es für Ida Dehmel daheim an Land nicht mehr gab. Dort wurde es zunehmend gefährlich, sich auf Vertrautes zu verlassen.
Aus heutiger Sicht scheint es geradezu unverständlich, dass eine Jüdin eine Weltreise im Jahre 1936 nicht nutzte, um sich ins Exil zu retten. In der damaligen Situation lag der große Schritt, die Heimat zu verlassen, keineswegs so nah. Auch wenn sie um den wachsenden Druck zuhause wusste: Für Ida Dehmel, diese unbeugsame und zutiefst deutsch fühlende Frau, war Auswandern keine Option.
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Carolin Vogel, Dr. phil, geb. 1973, ist Kulturwissenschaftlerin und promovierte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt Oder. Sie ist Projektleiterin der Hermann Reemtsma Stiftung in Hamburg und Vorstandsmitglied der Dehmelhaus Stiftung. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere Richard und Ida Dehmel, den Künsten um 1900, Künstler- und Dichterhäusern, Kulturerbe und kulturellem Gedächtnis.
Carolin Vogel, „Wir leben auf dem Meer wie auf einer anderen Erde“. Nachtrag in Ida Dehmels Tagebuch einer Weltreise an Bord der „Reliance“ 1936, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 14.04.2020. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-260.de.v1> [20.11.2024].