Die englischsprachige Zugangsberechtigung für die Rundfunkgebäude in Hamburg, der Stempel der „Broadcasting Control Administration“ und die Unterschrift eines ranghohen britischen Offiziers zeigen, dass der Aufbau des Hamburger Rundfunks nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Stück britisch-deutscher Geschichte ist. Britische Truppen begannen am 3.5.1945, Hamburg zu besetzen. Das seit 1931 bestehende Funkhaus im Stadtteil Harvestehude war im Krieg weitgehend unzerstört geblieben und fiel am 4. Mai um 10 Uhr in die Hände der Siegermacht. Bereits am selben Tag wurde abends um 19 Uhr der Sendebetrieb wieder aufgenommen. Mit der britischen Nationalhymne und der zweisprachig verlesenen Stationsansage „Here is Radio Hamburg, a Station of the Alliied Military Government“, „Hier ist Radio Hamburg, ein Sender der alliierten Militärregierung“ signalisierte man nach nur 23 Stunden Sendepause den Neubeginn des Rundfunkbetriebs in der britischen Besatzungszone.
Dass Radio Hamburg der erste Sender in Deutschland war, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges „on air“ gehen konnte, wurde durch eine kleine Spezialeinheit der britischen „21. Army Group“ ermöglicht. Nach dem schnellen Sendestart galt es aber auch, die Fragen der Programmgestaltung anzugehen und tägliche Sendungen zu produzieren. Das war keine geringe Herausforderung, denn insgesamt hatten die Briten einen erheblichen Planungsrückstand, was ihre Informations- und Medienpolitik für ein besetztes Deutschland anbelangte. Gemeinsam mit den Amerikanern hatte man zwar die Psychological Warfare Division (PWD) gegründet, die direkt dem Oberkommando der alliierten Streitkräfte, den Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF), unterstand. Das SHAEF-Gesetz Nr. 191 vom November 1944 schloss aber jegliche Aktivität von Deutschen im Bereich der Medien im besetzten Deutschland aus. Mit dem Ende des Krieges und der Übernahme des Funkhauses herrschte jedoch konkreter Handlungsbedarf. Unter den Militärs, die noch im Mai 1945 nach Hamburg abgeordnet wurden, befand sich Walter Albert Eberstadt, ein 24-jähriger Offizier. Als Walter Everitt kam er in britischer Uniform und im Rang eines Majors in die Stadt zurück, in der er zehn Jahre zuvor zur Schule gegangen war.
Walter Albert Eberstadt, auf den der Hausausweis für Radio Hamburg ausgestellt ist, wurde 1921 in Frankfurt am Main als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Im Januar 1924 wechselte die Familie nach Hamburg, wo der Vater als Bankier Karriere machte. Der Junge besuchte in der Hansestadt das Johanneum. Die Jahre des Erfolgs und des wachsenden Wohlstandes wurden unterbrochen durch die Wirtschaftskrise und durch die bald darauf folgende Machtübernahme der Nationalsozialisten beendet. Assimilierte jüdische Familien wie die Eberstadts glaubten sich durch ihre Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg zunächst geschützt. Nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze schickten die Eltern Ende 1935 den inzwischen 14-Jährigen nach England. Ein Jahr später folgten sie selbst.
Walter Albert Eberstadt besuchte in England bis 1939 eine öffentliche Schule und konnte noch für kurze Zeit in Oxford studieren, bevor er im Juni 1940 wie viele andere deutsche Emigranten als „enemy alien“ vorübergehend interniert wurde. Doch der junge Emigrant wollte sich für Großbritannien einsetzen. „Ich wollte noch immer sehr, sehr britisch sein.“ „I still wanted to be very, very British“, Walter Albert Eberstadt, Whence We Came, Where We Went: From the Rhine to the Main to the Elbe, from the Thames to the Hudson. A Family History, New York 2002, S. 219., schrieb Eberstadt viele Jahre später (2002) in seiner Autobiografie. Freiwillig meldete er sich zum Militär und wurde Soldat in einem „Pioneer Corps“. 1942 bekam er die Möglichkeit, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Nach einer kurzen Ausbildung wurde Eberstadt im Juli 1942, noch nicht 21 Jahre alt, Second Lieutenant. Im Oktober 1944 nahm er den Namen Walter Everitt an, der auch auf dem Ausweis eingetragen ist. Er blieb aber deutscher Staatsbürger, da die britische Regierung zu diesem Zeitpunkt die Naturalisierung generell gestoppt hatte.
Nachdem Everitt im Herbst 1944 zu einer Einheit der Informationskontrolle versetzt wurde, erhielt er eine kurze Ausbildung bei der British Broadcasting Corporation (BBC) und in einem Trainingscenter bei Cobham. Als Captain wechselte er zur Jahreswende 1944/45 in das Alliierte Hauptquartier in Europa, um dort die britische und US-amerikanische Programmarbeit von Radio Luxembourg mitzugestalten. Das Kriegsende feierte Everitt, einer von 13 „feature writers“ bei Radio Luxembourg, auf einem gemeinsamen Spaziergang mit seinem amerikanischen Kollegen, dem späteren Historiker Golo Mann. Wenige Tage später folgten neue Aufgaben in Hamburg. Everitt wurde der 4. Information Control Unit zugeteilt und bekam den Auftrag, einen regelmäßigen Rundfunkbetrieb in Hamburg zu gewährleisten.
„Das britische Personal war für das Verfassen und Übertragen der Radiobeiträge verantwortlich. In den ersten Wochen gab es keine deutschen Redaktionsmitglieder.”, erinnerte sich Eberstadt an die ersten Tage bei Radio Hamburg. „The British personnel did the writing and broadcasting. In the first weeks there was no German program staff”, Ebd., S. 332. Im Funkhaus in der Rothenbaumchaussee war er für den Bereich „talks and features“ zuständig, also für das gesamte Wortprogramm. Auf Dauer, das wurde den wenigen britischen Offizieren vor Ort, aber auch ihren vorgesetzten Militärbehörden und deren Planungsstäben deutlich, mussten zuverlässige deutsche Mitarbeiter für das Programm eingestellt werden.
Eberstadt wurde einer der einflussreichsten „Control Officers“, der sich an der Suche nach qualifizierten deutschen Mitarbeitern beteiligte. Dabei spielte seine jüdische Herkunft keine Rolle, ausschlaggebend waren seine Deutschland-Kenntnisse und die Tatsache, dass er Muttersprachler war. Denn bewusst stellten die britischen Besatzungsbehörden, wenn möglich, Teams von Rundfunk-Offizieren zusammen, die sehr unterschiedliche Biografien hatten. In Hamburg waren Eberstadts Kollegen britische Rundfunkexperten, erfahrene Berufsmilitärs und Alexander Maass, ein deutscher Remigrant, der aus politischen Gründen ins Exil gegangen war. Die Teams waren mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet und nahmen die Einstellungen selbst vor, wobei vor Ort sehr pragmatische Formen des Bewerbungsgesprächs erprobt wurden.
Zu den ersten deutschen Programm-Mitarbeitern, die das „Screening“ bei Major Everitt durchliefen, zählten Axel Eggebrecht und Peter von Zahn. Beide wurden bedeutende Rundfunkjournalisten. Dabei bildeten sie ein Redakteurs-Duo, wie es unterschiedlicher nicht hätte sein können. Axel Eggebrecht war ein unabhängiger, parteipolitisch nicht gebundener linker Intellektueller; Peter von Zahn, streng konservativ erzogen mit einem Gefühl für Standesehre, war ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier und Kriegsberichterstatter im „Dritten Reich“. Eggebrecht will zu Everitt im Anstellungsgespräch gesagt haben: „Können wir uns auf die Formulierung einigen, daß Sie den Krieg für uns gewonnen haben? Für diejenigen nämlich, die von Anfang bis Ende niemals ja sagten zu diesem Nazireich […]. Nun endlich können wir reden.“ Axel Eggebrecht, Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche, Reinbek 1981, S. 320. Peter von Zahn zeichnete in seiner Autobiografie von seinem ehemaligen Controller Everitt ein sympathisches Porträt. Die beiden Pfeifenraucher verstanden sich auf Anhieb und entwickelten eine lebenslange Freundschaft. „Wir waren […] eng befreundet. Wir wurden in jenen ersten Friedenswochen […] Kameraden in den Anfängen des Aufbaus eines demokratischen Deutschlands“, sagte Eberstadt auf der Trauerfeier für Peter von Zahn 2001 in Hamburg und fuhr fort: „Trotz all dem, was Peter später geleistet hat, glaube ich, hat er immer auf das Jahr 1945–46 als die fruchtbarsten 12 Monate seines langen Arbeitslebens zurückgeschaut. Und mir geht es ähnlich.“ Walter Albert Eberstadt: [Typoskript], Nachruf auf Peter von Zahn, 6. August 2001. Forschungsstelle Mediengeschichte. Hamburg.
Everitts Hausausweis für den Rundfunk in der Rothenbaumchaussee wurde erst im Februar 1946 ausgestellt. Er war also mit Sicherheit nicht das erste Dokument dieser Art, das die Controller und alle neu angestellten deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei den Wachposten vor dem Rundfunkgebäude vorzuzeigen hatten. Everitts Ausweis trägt noch nicht einmal, wie eigentlich erforderlich, seine eigene Unterschrift. Er hat diesen Ausweis nur kurze Zeit benutzt. Denn bereits vor dessen Ablauf am 30.6.1946 quittierte der Offizier im Frühsommer 1946 seinen Dienst. Die britische Militärregierung in Deutschland, die British Control Commission for Germany / British Element (CCG / BE), musste sparen. Dank der erfolgreichen Politik, deutsche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden und anzustellen, konnten die Besatzungsbehörden ihr Personal reduzieren. Eberstadts / Everitts maßgebliche Leistung am Aufbau eines demokratischen Rundfunks in Hamburg erstreckt sich also auf einen kurzen Zeitraum, der weniger als ein Jahr umfasst.
Nur wenige jüdische Rückkehrer blieben damals in Deutschland. Auch Eberstadt zog es Mitte 1946 nach Großbritannien zurück, wo er sein unterbrochenes Studium in Oxford zu Ende brachte. Von 1948 bis 1951 arbeitete er als Redakteur beim „Economist“. Danach ging er in die USA und startete eine Karriere als sehr erfolgreicher Investmentbanker. 1970 wurde er General Partner der Investmentbank Lazard Ltd. Seit Mitte der 1970er-Jahre hatte er wichtige Positionen inne, darunter als Mitglied im Board of Trustees der „New School“ in New York. Zu seinen vielen Ehrungen gehörte 1987 auch das Bundesverdienstkreuz.
Die Frage, warum er nicht in Hamburg blieb, um in Deutschland Karriere zu machen, muss unbeantwortet bleiben. Eine ablehnende Haltung, den Deutschen gegenüber, die ihn und seine Familie ins Exil gezwungen hatten, wird mit Sicherheit nicht den Ausschlag gegeben haben. Denn zu den spannendsten Stellen seiner Autobiografie zählen die, in denen der Wahl-New Yorker und spätere US-Bürger Walter Albert Eberstadt sein Verhältnis zur Bundesrepublik positiv reflektiert. Sie münden in seinem Bekenntnis, dass die erzwungene Emigration für ihn persönlich zu einem Glücksfall wurde, nämlich der Beginn eines erfüllten Lebens.
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Hans-Ulrich Wagner, Dr. phil., ist Senior Researcher am Hans-Bredow-Institut und Leiter der Forschungsstelle Mediengeschichte. Seine Forschungsinteressen umfassen die Geschichte der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation, insbesondere Fragen von Medien und Migration sowie von Medien und Vergemeinschaftsprozessen.
Hans-Ulrich Wagner, Rückkehr in Uniform. Walter Albert Eberstadt und der Aufbau von Radio Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 07.08.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-114.de.v1> [21.11.2024].