Käthe Starke, Der Führer schenkt den Juden eine Stadt. Gelesen von Laura de Weck, Auszug aus dem Hörbuch „…in schwarzer Nacht und lautloser Stille muss ich meinen Weg allein suchen…“, Hamburg 2011.

    Was die Schlachttiere empfinden, wenn sie dumpf zusammengepfercht im Viehwagen dahinrollen — ich weiß es aus Erfahrung.


    Abschied und Reise.

    Ein gutes Ende kann dies nicht nehmen, fühlen die Tiere instinktiv, so wie das angefangen hat: Vom heimischen Hof geführt — mit Knüppeln und Geschrei sind dann die Treiber in ihren schweren Schaftstiefeln über die zwischen den Barrieren dichtgedrängten Rücken getrampelt, und wer in seiner Angst auszubrechen suchte, wurde gnadenlos zusammengeschlagen. — Gewiß — die Weide — auch nicht immer schön gewesen. Heiße Sonne — wenig Schatten — Durst —. Im Frühjahr peitschte der eiskalte Wind von See oft tagelang, nächtelang den Regen waagerecht, und wir standen schutzlos, gleichgerichtet alle, ihn mit dem Kopf zu empfangen, so still, wie jetzt — aber frei. Gut war der Stall. Warm vertraut der Geruch, bekannt die Nachbarn, ihre Stimmen, ihre Gewohnheiten — ach, und jetzt — — man müßte schreien — — wenn nur niemand anfängt, zu schreien. — — — Nein — auf unserm Transport nach Theresienstadt fing niemand an, zu schreien. Uns trat auch keiner in den Rücken, wie ich es elf Monate zuvor noch im Hof der Schule an der Sternschanze gesehen hatte, wenn die Alten nicht schnell genug die hohen Klapptritte an den Mannschaftswagen der Polizei erklimmen konnten.
    Der Chef des Judenderzernats der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Hamburg, „Herr“ Göttsche, der uns mit seinem Stab das Abschiedsgeleit gab, zeigte sich mehrere Nuancen undienstlicher als gewöhnlich. Keine Filmkameras surrten, keine umgehängten Photo-Apparate machten Privataufnahmen von hübschen Helferinnen, von Elendsgestalten auf dem Bahnsteig oder von Tragbahren mit sterbenden Greisen. Es war ja vergleichsweise auch gar nichts los heute. Ein kleiner Transport von 108 Seelen nur. Aber mit diesem kleinen Transport, der die letzten Mitarbeiter der Gemeinde und die letzten Betreuten entführte, sahen die Beamten vom Judendezernat ihr Arbeitsgebiet in der Heimat entschwinden und die Front für sich in gefährliche Nähe rücken. Und das war es, was sie erweichte.
    Die gelockerte Haltung war schon bei der Abwicklung der Formalitäten spürbar geworden. Wir konnten die letzte Nacht in unserm eignen Bett verbringen und wurden nicht, wie bisher üblich, Tage vorher eingesammelt und unter Verschluß gehalten. Mehrere Gesichtspunkte mögen dafür maßgeblich gewesen sein. Die früheren Transporte ließen einen Gemeinde-Apparat zurück, der, wenn auch mehr und mehr geschwächt und dezimiert, doch immer wieder aktionsfähig gemacht worden war. Es gab noch Großküchen, die die Verpflegung solcher Menschenansammlungen durchführen konnten, es gab genügend freiwillige Helfer, die Tag und Nacht Dienst taten. Wie das immer wieder geschafft wurde, ist ein Wunder an Organisation der Gemeindeleitung und an Einsatzwilligkeit ihrer Mitglieder. Aber mit uns war der Rest dran. Niemand war mehr da, der für uns hätte sorgen können, wir mußten unsre Beerdigung selber durchführen. Seit dem 11. Juni standen wir zudem unter Hausarrest, der sich auf den Komplex Beneckestraße 2—6 erstreckte. In diesen gemeindeeigenen Häusern waren die verstreut in Hamburg wohnenden Juden seit September 1942 zusammengezogen. [] An diesem 11. Juni 1943 hielt es der Hamburgische Staatsrat Dr. Leo Lippmann nicht mehr für der Mühe wert. Man fand ihn und seine Frau in tiefem Schlaf, und sie wollten nicht mehr zu dem Leben erwachen, das sie für sich voraussehn konnten. Vorher aber machten sie unter anderen meiner Schwester und mir ihren Abschiedsbesuch und trugen uns Grüße auf an ihre Freunde Dr. Heinrich Wohlwills in Theresienstadt — falls wir sie treffen würden.
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    Track 2, 00:00-01:16

    Auf dem abgelegenen Güterbahnhof, dem „Hannöverschen“, der schon Schauplatz vieler Judentransporte gewesen war, an dem wie unheimliche Schattenspiele im nächtlichen Dunkel herzzereißende Begebenheiten und menschenunwürdige Szenen vorübergezogen sind, begann für uns das Abenteuer, aus dem noch niemand zurückgekehrt war. Aber es begann im hellen Licht eines heiteren Sommertages, wie unsre Stadt nicht viele kennt. Die Güterwagen, die uns einschluckten, vergalten der Sonne ihr Licht mit einem warmen Aufleuchten ihres mattroten Anstrichs. Unbarmherzig in der klaren Luft bot sich der Zug der Träger dar, die über den leeren Bahnsteig unsre bettlägerigen Kranken, unsre ältesten und nicht Transportfähigen zu den notdürftig als Liegewagen eingerichteten Waggons trugen. Sauber hergerichtet, wie vom Leichenwäscher, ein letztes Mal pfleglich betreut, verschwanden sie hinter den Schiebetüren, entschwanden sie ihren „arisch versippten“ Verwandten, die sie hilflos begleiteten, und waren einem Schicksal ausgeliefert, das „Verhungern“ heißen sollte.
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    Track 2, 03:15-04:07

    Die Gestapoleute verabschiedeten sich von den beiden Kollegen, die uns begleiten sollten. Ganz allein und uns am nächsten stand Dr. Plaut, Dr. Max Plaut, der Chef der Gemeinde. Seit vielen schweren Jahren befand er sich nun schon im vollen Beschuß sowohl von Seiten der Gestapo wie der Gemeindemitglieder. Er war der Prellstein zwischen den Fronten. Ihn trafen die Nachrichten von Aktionen, Transporten, Verhaftungen zuerst, er hatte sie weiter zu geben an die Betroffenen. Er empfing Befehle und mußte sie ausführen. Tag für Tag, wenn er zum Rapport zu „Herrn“ Göttsche ging, wußte er, wußten wir nie, ob er wiederkehren würde. Dabei war es ihm ergangen wie allen Überbringern böser Neuigkeiten, man legte sie ihm zur Last.
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    Track 3, 00:00-00:36

    Die Türen wurden zugeschoben. Der Transport war abgefertigt. Wir merkten, daß wir fuhren. — In diesem Augenblick — am 23. Juni 1943 — endete die altehrwürdige Tradition der Hochdeutschen Israeliten-Gemeinde zu Altona, und die der hochangesehenen und reichen Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg.
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    Quellenbeschreibung

    1975 veröffentlichte Käthe Starke-Goldschmidt  Die Autorin veröffentlichte unter ihrem Ehenamen Starke, den sie ab Ende der 1940er-Jahre trug. In Anlehnung an andere Publikationen und zur besseren Lesbarkeit wird sie im Folgenden Käthe Starke-Goldschmidt genannt. ihre Erinnerungen an ihre Zeit im Ghetto und Durchgangslager Theresienstadt unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Sie beginnt mit einer kritischen, stellenweise bitter wirkenden Einordnung der Zeit vor 1933, beschreibt ausführlich ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Begegnungen in Theresienstadt und endet mit ihrer Rückkehr nach Hamburg am 2.8.1945. Besonders eindrücklich ist die Schilderung ihrer Deportation, die trotz ihrer nüchternen Weitsichtigkeit emotional stark aufgeladen ist – sie soll hier im Mittelpunkt stehen.

    In ihrem Buch sind alle künstlerischen Werke aus Theresienstadt abgedruckt, die sie retten konnte. Zudem enthält es einen Bericht über eine Reise mit ihrem Sohn Pit nach Terezín im Jahr 1964, den sie doppeldeutig und ähnlich sarkastisch wie den Titel des Buches mit „Stadt meiner Träume“ überschrieben hat. Ein umfangreicher Dokumententeil enthält sowohl einen Rechenschaftsbericht der Zentralbücherei sowie Nachweise über Deportationen nach und von Theresienstadt. Auch Starke-Goldschmidts „certificate“ der Jüdischen Selbstverwaltung vom 28.7.1945, das sie als ehemaligen Häftling ausweist, ist abgedruckt.

    Das Buch ist seit langem vergriffen und antiquarisch nur zu recht hohen Preisen zu erwerben. Die von Käthe Starke-Goldschmidt geretteten Dokumente wurden 2002 vom Altonaer Museum ausgestellt. Axel Feuß, Das Theresienstadt-Konvolut, Hamburg / München 2002. Das Theresienstadt-Konvolut befindet sich noch heute als Dauerleihgabe dort und ist im Besitz ihres Sohnes.

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    Empfohlene Zitation

    Käthe Starke, Der Führer schenkt den Juden eine Stadt. Gelesen von Laura de Weck, Auszug aus dem Hörbuch „…in schwarzer Nacht und lautloser Stille muss ich meinen Weg allein suchen…“, Hamburg 2011., veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-218.de.v1> [30.12.2024].