Mary Antin (Maryasche Antin) aus dem weißrussischen Polotzk reiste 1894 mit ihrer Mutter und drei Geschwistern über Hamburg nach Boston, wohin der Vater vorausgefahren war. Unmittelbar nach ihrer Ankunft 1894 berichtete Mary Antin von ihrer Reise in einem Brief an den Onkel mütterlicherseits, Moshe Hayyim Weltman in Polotzk. Der von Mary Antin geschilderten Entstehungsgeschichte des Briefes zufolge kippte ihre Lampe um, kurz bevor sie den Brief vollendet hatte. Dieser sei mit Kerosin übergossen worden, weshalb sie ihn noch einmal habe abschreiben müssen. 1899 veröffentlichte sie auf Grundlage des kerosingetränkten Originals eine englische Version des auf Jiddisch verfassten Reiseberichts unter dem Titel „From Plotzk to Boston“. Die von der 18-jährigen geschriebene englische Fassung richtete sich an die amerikanische Öffentlichkeit und unterschied sich in ihrer sprachlichen Gestaltung vom hier diskutierten jiddischen Brief der 13-jährigen an den Onkel und die Verwandten daheim in Russland. Die literarisch begabte Mary Antin galt als Wunderkind, und die von jüdischen Gönnern geförderte Publikation sollte ihr die weitere Ausbildung ermöglichen. Gefördert wurde Mary Antin von ihrer Lehrerin Mary Dillingham, den Bostoner jüdischen Philantropen Lina und Jacob Hecht und deren Freund, dem bekannten jüdischen Schriftsteller, Israel Zangwill. Dieser stellte den Kontakt zur Zeitschrift American Hebrew her, in welcher die englische Version 1899 in Fortsetzungen abgedruckt wurde, bevor sie als Buch erschien. Die Gönner wollten angesichts der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit und politischer Initiativen gegen die Masseneinwanderung in die USA ein Musterbeispiel gewinnbringender Integration vorführen. 1910 gelangte Mary Antin anlässlich einer Reise nach Russland wieder in den Besitz des Originalbriefes. 1914 ließ ihr Schwager, John F. Grabau, den Brief binden und übergab ihn der Boston Public Library, in deren Bestand er sich heute noch befindet, einschließlich einer kurzen handschriftlichen, von Mary Antin verfassten Einleitung zur Geschichte des Manuskripts in englischer Sprache.
Das Original-Manuskript zählt 68 Seiten, wobei die Nummerierung offenbar aufgrund eines Irrtums von Seite 55 direkt zu Seite 60 springt. Ein Transkript des Briefes sowie eine englische Übersetzung wurden 2013 von Sunny Yudkoff veröffentlicht und liegen dieser Quelleninterpretation zugrunde.
Mary Antin: Brief an den Onkel Moshe Hayyim Weltman in Polotzk, 1894 [Auszug] (übersetzt von Monica Rüthers), veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-47.de.v1> [21.11.2024].