Der Vorwärts-Redakteur Julius Kaliski (1877–1956) war kurz nach der Jahrhundertwende ein prominentes Mitglied des revisionistischen Flügels der SPD. Ende 1904 hatte er eine mehrmonatige Strafe wegen Majestätsbeleidigung im Gefängnis Tegel abgesessen. Seine Artikelserie „Mit Ballin Unterwegs“ gibt einen unmittelbaren Einblick in den kaum bekannten Alltag der Massenmigration aus Osteuropa über Deutschland (und Hamburg) in die Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende. Schon eine oberflächliche Lektüre offenbart einen sarkastisch-polemischen Ton. Zielscheibe von Kaliskis Kritik war in erster Linie der Generaldirektor der HAPAG, Albert Ballin, einer der erfolgreichsten Geschäftsleute des Kaiserreichs. Als junger Mann übernahm er die kleine Auswanderungs-Agentur seines Vaters, ein jüdischer Einwanderer aus Dänemark. 1886 wurde Ballin zum Direktor der HAPAG Passage-Abteilung ernannt. In dieser Rolle hatte er maßgeblichen Anteil am Aufstieg der HAPAG zur einer der größten Schifffahrtsgesellschaft der Welt. Aufgrund seiner einfachen Herkunft blieb Ballin auch nach seiner Ernennung zum Generaldirektor der HAPAG 1899 in der Hamburger Society ein Außenseiter und war Zielscheibe zahlreicher antisemitischer Angriffe.
Ballin war der Architekt eines engmaschig organisierten Durchwanderungssystems, dem sich die meisten Osteuropäer auf dem Weg in die Vereinigten Staaten nicht entziehen konnten. Das System resultierte aus der engen Zusammenarbeit der HAPAG und der in Bremen ansässigen Schifffahrtslinie Norddeutscher Lloyd mit der preußischen Regierung. Für die Sozialdemokratie war es ein Skandal, dass Durchwanderer nicht selbständig durch Preußen fahren konnten, sondern gezwungen wurden, mit der HAPAG oder dem Lloyd zu überhöhten Preisen zu reisen. Kaliski wollte nachweisen, dass die HAPAG Osteuropäer auf dem Weg nach Nordamerika systematisch ausbeutete und heimlich mit den russischen Behörden kooperierte. Immer wieder wurde Migranten die Durchreise verweigert. Ende 1904 waren diese Abweisungen besonders brisant. Das russländische Reich wurde von politischen Unruhen erschüttert und befand sich im Krieg mit Japan. Jüdische Migranten waren auf der Flucht vor einer Welle antijüdischer Ausschreitungen, und junge Männer versuchten dem Militärdienst zu entkommen. Bei einer Zurückweisung drohten Militärflüchtlingen drakonische Strafen. In seiner Verkleidung wollte Kaliski, der selbst jüdischer Herkunft war, einen Blick in diese „Ballinsche Dunkelkammer“ werfen.
Hintergrund von Kaliskis Reportage war die nach 1880 und vor allem in den Jahren nach 1900 stark anwachsende Migration aus Osteuropa in die Vereinigten Staaten. Die russländischen Behörden erschwerten die legale Auswanderung, unternahmen jedoch wenig, um die Massenmigration von Juden, Polen, Litauern und Ukrainern zu verhindern. Die Kontrollen entlang der langen Landgrenze mit Preußen waren oberflächlich und mit der Hilfe von Schmugglern leicht zu umgehen. Die preußische Regierung konnte die lange Ostgrenze nicht wirksam kontrollieren. Obwohl der Anteil von bei der Ankunft in amerikanischen Häfen als „unerwünscht“ klassifizierten Migranten vor 1914 gering blieb, war die Repatriierung insbesondere von russischen Untertanen häufig umständlich, weil die meisten ihr Heimatland illegal verlassen hatten und kein Geld für die Rückreise hatten. Als an das russländische Reich angrenzendes Transitland musste Preußen in der Regel die Repatriierung organisieren und finanzieren.
Die beiden führenden deutschen Schifffahrtslinien, HAPAG und Lloyd, erschlossen in den 1880er-Jahren erfolgreich den lukrativen osteuropäischen Passagiermarkt. Sie profitierten dabei von der günstigen Lage des Kaiserreichs, das Osteuropäer auf dem Weg zu den Nordseehäfen durchqueren mussten. Ballin gelang es 1887, die Befürchtungen der Berliner Regierung zu zerstreuen. HAPAG und Lloyd verpflichteten sich, alle Kosten für ihre zurückgewiesenen Passagiere zu übernehmen. Die Hamburger Cholera-Epidemie 1892 führte auch zu einer Neuorganisation der Transitwanderung aus Osteuropa. Die amerikanischen Behörden verlangten 1893 eine Desinfektion und mehrtägige Quarantäne aller russischen Migranten im europäischen Ausgangshafen. Nach längeren Verhandlungen zwischen Ballin, Heinrich Wiegand, dem Generaldirektor des Lloyd, und der preußischen Regierung stimmte diese der faktischen Privatisierung der bis dahin lückenhaften Grenzkontrollen an der Ostgrenze zu. An den wichtigsten Bahnübergängen eröffneten HAPAG und Lloyd „Kontrollstationen“, in denen sich alle Durchwanderer einer Desinfektion und Inspektion nach den Bestimmungen der amerikanischen Einwanderungsgesetze unterziehen mussten. Vorbild für die Kontrollstationen war der von Kaliski erwähnte „Auswandererbahnhof“ Ruhleben bei Berlin. Dort wurden Durchwanderer bereits seit 1891 isoliert und nach der Hamburger Cholera-Epidemie im Jahr 1892 auch untersucht und desinfiziert. Das System der Kontrollstationen zementierte das Monopol der beiden deutschen Linien über den osteuropäischen Auswanderermarkt. Die Sozialdemokratie gehörte zu den frühen Kritikern dieses Systems und der gewerkschaftsfeindlichen Politik der HAPAG.
Mitte der 1890er-Jahre organisierte Ballin ein Kartell der wichtigsten transatlantischen Schifffahrtslinien, den Nordatlantischen Dampfer-Linien-Verband. HAPAG und Lloyd räumten den Konkurrenten symbolische Anteile am lukrativen Osteuropageschäft ein. Das Kartell bedeutete, dass Durchwanderer überhöhte Preise für die Passage nach Nordamerika entrichten mussten. 1901 nahmen die Auswandererhallen der HAPAG in Hamburg-Veddel den Betrieb auf. Der an der südlichen Peripherie des Hafens angesiedelte moderne Komplex isolierte insbesondere russische Durchwanderer von der Bevölkerung. Zugleich genossen Migranten einen relativ hohen Komfort und waren vor Betrügern geschützt. Selbst Kaliski räumte ein, dass sich die modernen HAPAG-Auswanderungshallen deutlich von den heruntergekommenen Einrichtungen an der Ostgrenze abhoben.
Anfang 1904 zerfiel das Kartell und es kam zu einem massiven Preiskrieg zwischen HAPAG und Lloyd mit der britischen Cunard-Linie. An der preußischen Ostgrenze wiesen HAPAG- und Lloyd-Angestellte systematisch Migranten mit Tickets der Cunard ab, obwohl sie den amerikanischen Einwanderungsbestimmungen entsprachen. Unter den Abgewiesenen waren viele Juden und Militärflüchtlinge. Mit Ausnahme des Vorwärts und der SPD-Fraktion im Reichstag ignorierte die deutsche Öffentlichkeit diese Praxis für mehrere Monate, selbst als bekannt wurde, dass die HAPAG die russische Marine im Krieg gegen Japan mit Kohle versorgte. Die Enthüllung der russischen Kooperation mit der HAPAG schien die Vorwürfe der Sozialdemokratie zu bestätigen. Die Regierung in St. Petersburg galt nicht nur in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit als Inbegriff des „barbarischen Despotismus“. Führende Vertreter der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Westeuropa und in den Vereinigten Staaten machten die russische Regierung für eine Welle von brutalen antijüdischen Ausschreitungen verantwortlich.
Erst im Oktober 1904 begann die liberale Presse, darunter das Berliner Tageblatt, HAPAG und Lloyd offen für die Zurückweisung von russischen Migranten zu kritisieren. Der deutsch-jüdische Publizist Paul Nathan machte Ballin im Namen des Hilfsvereins der Deutschen Juden öffentlich für die Behandlung russischer Migranten verantwortlich. Während die HAPAG Kritik der Sozialdemokratie grundsätzlich ignorierte, bewirkten die Angriffe von liberalen Zeitungen und von Nathan einen Sinneswandel. Nach einem Treffen führender Hilfsverein-Mitglieder mit Ballin wurde die Zurückweisung der Cunard-Passagiere an der Ostgrenze eingestellt. Die Cunard einigte sich mit den deutschen Linien und trat dem Kartell der Schifffahrtslinien Ende 1904 wieder bei.
Kaliski trat seine Reise als „Joel Kalischer“ Anfang Dezember kurz nach Ende des Konfliktes mit der Cunard-Linie an. Die Absicht des Vorwärts war aufzuzeigen, dass von einer Rückkehr zur Normalität keineswegs die Rede sein konnte. Stichhaltig war Kaliskis Kritik an der Grenzkontrolle durch private Firmen. Allerdings spricht vieles dafür, dass die preußischen Behörden die Kontrollen sehr viel rigoroser durchgeführt hätten als die Schifffahrtslinien, die ein Interesse daran hatten, möglichst viele Migranten zu transportieren. Ebenfalls schlüssig war Kaliskis Einschätzung, dass die Desinfektion in der Kontrollstation erniedrigend und chaotisch, aber nicht effektiv war.
Kaliskis Bericht demonstriert die unfreundliche Behandlung und Übervorteilung der Durchwanderer während des Transits. Die scharfe Isolation der Migranten erinnert tatsächlich an Gefangenentransporte: „Sie sind keine Untersuchungsgefangene, sondern ‚freiwillige‘ Passagiere der Hamburg-Amerika-Linie, die man der Freiheit beraubt.“ Vorwärts, 5. Januar 1905. Wie Mary Antin beeindruckte auch Kaliski die Faszination der Migranten bei der Fahrt des Zuges durch Berlin: „Wie der Schein einer besseren Zukunft wird der Lichterglanz begrüßt und fast andächtig rufen einige Juden: ‚Jetzt wird’s lichtig.‘“ Vorwärts, 27. Dezember 1904 („Im Auswandererzuge“). Der versiegelte Zug hielt erst außerhalb von Berlin in Ruhleben, wo die Durchwanderer erneut von einem Arzt untersucht wurden.
Letztlich konnte Kaliski der HAPAG jedoch keine schwerwiegenden Verstöße gegen bestehende Gesetze nachweisen. Der polemisch-sarkastische Ton erklärt sich aus der Zielgruppe der Artikel. Anhänger der Sozialdemokratie waren antikapitalistisch eingestellt und hegten keine Sympathien gegenüber Regierungen in Preußen und Hamburg, die aufgrund des Klassenwahlrechts nur partiell demokratisch legitimiert waren. Der Hamburger Polizeikommissar Kiliszewski, der Kaliski im Dezember in den Auswandererhallen kontrolliert hatte, kommentierte die Artikel in einem internen Vermerk am 14.1.1905 als „Phantasie und Übertreibung“. Vermerk von Kiliszewski, 14. Januar 1905, „Der Redakteur des Vorwärts, Julius Kaliski“, II E III P 45, Auswanderungsamt, 373-I, Staatsarchiv Hamburg. Recherchen in den Akten des Auswanderungsamtes und die Berichte des Hilfsvereins der Deutschen Juden deuten tatsächlich darauf hin, dass Migranten das Recht auf Beschwerde hatten und dieses auch nutzten. Der Wert von Kaliskis Artikelserie liegt weniger in den Kommentaren als in den genauen Beobachtungen, etwa über den Transport und die beängstigende Desinfektionsprozedur in Tilsit.
Die Artikel geben auch einen Eindruck vom alltäglichen Antisemitismus im Kaiserreich. Kaliski warf Ballin implizit vor, als
Jude nicht ausreichend Sympathie für seine osteuropäischen Glaubensgenossen zu
zeigen. Seine Artikel und die äußerst kritische Berichterstattung des Vorwärts
gegenüber Ballin
werfen die Frage auf, ob die Zeitung ungewollt die antisemitische Agitation gegen Ballin unterstützte.
Ballin
Durchwanderungssystem bescherte der HAPAG gewaltige Profite, aber die Schifffahrtslinie öffnete auch
vielen Menschen aus Osteuropa das Tor nach Nordamerika, die sonst
entweder von preußischen Behörden zurückgewiesen worden wären oder gar nicht die
Möglichkeit erhalten hätten, Tickets für die Reise nach Amerika zu erwerben.
Die Desinfektionsprozeduren und Untersuchungen sollten vor allem die Bedenken
der amerikanischen Behörden ausräumen. Und tatsächlich äußerten sich
amerikanische Vertreter wiederholt lobend über das deutsche
Durchwanderungssystem. Trotz überhöhten Ticketpreisen und der vielfach groben
Behandlung der Migranten hatten Passagiere der HAPAG und des Lloyd sehr viel bessere
Chancen die Gesundheits-Kontrolle in Ellis Island zu
passieren als Passagiere anderer Schifffahrtslinien.
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Tobias Brinkmann (Thema: Migration), Dr. phil., ist Malvin and Lea Bank Associate Professor für jüdische Studien und Geschichte im Fachbereich Geschichte der Penn State University. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Migrationsgeschichte, insbesondere jüdische Migration von Mittel- und Osteuropa nach Nordamerika.
Tobias Brinkmann, „Mit Ballin unterwegs – Erfahrungen eines russischen Auswanderers“, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-169.de.v1> [21.12.2024].