Die rituelle Schlachtmethode des Schächtens ist ein Gebot des Judentums. Nach traditioneller Auffassung ist nur das Fleisch eines vorschriftsgemäß geschächteten Tieres koscher und darf verzehrt werden. Das unbetäubte Vieh wird durch einen schnellen, tiefen Halsschnitt getötet und entblutet. Dabei darf dieser laut Religionsgesetz nur an einem unverletzten Tier vorgenommen werden. Aus diesem Grund sind Kopfschläge und andere Einwirkungen auf das Tier streng verboten. Obwohl das Tier durch den Schächtschnitt nach wenigen Sekunden das Bewusstsein verliert, wurde der für strenggläubige Juden geheiligte Ritus wiederholt als „Tierquälerei“ angegriffen und bekämpft. Kampagnen gegen das Schächten, die mit Tierschutzargumenten einen gesetzlichen Betäubungszwang, das heißt ein Schächtverbot, propagierten, wurden bereits im 19. Jahrhundert im Deutschen Kaiserreich ebenso wie später in der Weimarer Republik geführt. Meist waren auch Antisemiten maßgeblich an solchen Initiativen beteiligt. Daneben unternahm auch die Obrigkeit Versuche, die Schächtpraxis einzuschränken und zu regulieren. Die Juden setzten sich gegen alle derartigen Bestrebungen zur Wehr und verteidigten mit dem Schächten auch ihr Recht auf freie Religionsausübung.
Aus dem Briefwechsel zwischen dem Leiter der damals „Deputation für Handel, Schifffahrt und Gewerbe“ genannten Hamburger Wirtschaftsbehörde, dem Schlachthofdirektor und dem Hamburger Oberrabbiner lässt sich ablesen, wie das Schächtwesen in Hamburg organisiert war: Dem Oberrabbiner der Gemeinde oblag die rituelle Aufsicht über die Schächtungen. Diese durften wiederum, wie alle Schlachtungen in Hamburg, nur auf dem Zentralschlachthof durchgeführt werden und unterlagen den Vorschriften und der amtlichen Aufsicht der Schlachthofverwaltung und der Deputation Deputation für Handel, Schifffahrt und Gewerbe. Die Korrespondenz veranschaulicht, dass sich das Schächten im Spannungsfeld zwischen der religiösen Autorität jüdischer Geistlicher und dem politischen Gestaltungsanspruch des Staates befand. Die Verwaltung drängte darin auf Veränderungen beim Schächten, denen sich der orthodoxe Rabbiner passiv widersetzte. Zudem entfaltete sich der Konflikt vor dem Hintergrund einer in mehreren Ländern des Reiches erbittert ausgetragenen Schächtdebatte, in der der jüdische Ritus heftigen Angriffen und Verbotsforderungen ausgesetzt war. In Bayern hatten die Schächtgegner bereits ein landesweites Schächtverbot durchsetzen können, in weiteren Ländern waren ähnliche Diskussionen im Gange.
Bei dem auf den 4.2.1930 datierten ersten Brief handelt es sich um ein Schreiben des Leiters der Deputation, Staatsrat Dr. Hugo Heidecker, an den ihm unterstellten Direktor der Schlachthofverwaltung Professor Dr. Johannes Neumann. Darin wies Heidecker den Schlachthofdirektor unter Verweis auf beigelegte Zeitungsausschnitte an, sich wieder der Schächtangelegenheit anzunehmen. Die Ausschnitte, die er seinem Adressaten mitschickte, behandelten das am 29.1.1930 vom bayerischen Landtag verabschiedete Schächtverbot. Damit war die in Bayern seit mehreren Jahren geführte Debatte um das Schächten mit dem ersten landesweiten Schächtverbot der Weimarer Republik zu einem für die jüdische Gemeinschaft bitteren Abschluss gekommen. Nun sollte Schlachthofdirektor Neumann mit den Hamburger Juden in Kontakt treten und die bereits 1924/25 geführten, aber letztlich im Sande verlaufenen Verhandlungen über mögliche „Verbesserungen“ des Schächtens wieder aufnehmen. Die bei den Juden auf Kritik und Widerstand stoßende Grundannahme der Behörde war 1924 wie 1930, dass das Schächten vom Standpunkt des Tierschutzes aus unerwünscht und deshalb in der bisherigen Form zu verbieten oder zumindest einzuschränken sei. Häufig waren solche Tierschutzüberlegungen von antisemitischen Motivationen durchdrungen, wobei insbesondere das Bild vom grausamen und skrupellosen Juden heraufbeschworen wurde und das Schächten als ein vermeintlicher Beleg galt. Der von Heidecker angesprochene sogenannte Weinbergsche Apparat Apparat um das Schlachttier in die benötigte Position für den Schächtschnitt zu bewegen, ohne das Tier – wie vor der Entwicklung des Apparats üblich – durch Abbinden der Gliedmaßen umlegen oder umwerfen zu müssen. war eine in England mit Blick auf die deutsche Schächtdebatte entwickelte Vorrichtung, die ein schonendes Niederlegen der zu schächtenden Tiere gewährleisten sollte. Dies macht die transnationale Dimension der Debatte deutlich: Nicht nur die innerdeutschen Entwicklungen in den einzelnen Ländern der Weimarer Republik standen in einer komplexen Wechselbeziehung, wie das Beispiel von Hamburg und Bayern zeigt. Es gab vielmehr Verflechtungen auch über nationale Grenzen hinweg. Um den Anordnungen seines Vorgesetzten Rechnung zu tragen, kontaktierte Neumann den Hamburger Oberrabbiner Dr. Samuel Spitzer. In dem Briefwechsel ging es vornehmlich um die Anschaffung der neuen Niederlegevorrichtung s.o. „Weinbergscher Apparat“, während das andernorts heiß umkämpfte Thema der neuartigen, elektrischen Betäubung und ihrer Zulässigkeit beim Schächten nicht berührt wurde. Der Schlachthofdirektor hatte große wirtschaftliche Bedenken, den jüdischen Bürgern die Betäubunabg des Schlachtviehs vorzuschreiben. Er befürchtete, dass sie in diesem Fall auf das Hamburger Umland ausweichen würden, was für den Schlachthof schmerzhafte finanzielle Einbußen bedeutet hätte. In der Tat wäre es – im Vergleich zum Flächenstaat Bayern – in Hamburg ein Leichtes gewesen, die Schächtungen beispielsweise nach Altona zu verlegen, das damals zu Preußen gehörte. Zum Umlegeapparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ gab Spitzer an, nicht im Bilde zu sein. Er sagte aber zu, sich bei der Reichszentrale für Schächtangelegenheiten in Berlin zu informieren und dann Stellung zu nehmen. Die von dem orthodoxen Rabbiner Esra Munk zur Abwehr der Schächtgegner gegründete und geleitete Stelle entfaltete bereits seit mehreren Jahren reichsweit verschiedene Aktivitäten – unter anderem überwachte sie auch diverse Versuche, die sowohl mit elektrischer Betäubung als auch mit dem Weinbergschen Apparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ durchgeführt wurden. So konnte Spitzer den Bemühungen des Schlachthofdirektor, die Sache in Hamburg zu forcieren, wiederholt mit dem Verweis auf anderweitig laufende Tests entgegenwirken. Exemplarisch hierfür steht seine lakonisch ablehnende Antwort an Neumann vom 2.4.1930, nachdem dieser nahegelegt hatte, die Hamburger jüdische Gemeinde möge den Apparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ doch selbst erwerben und testen. Als der Schlachthofdirektor ein halbes Jahr später erneut an den Niederlegeapparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ erinnerte, erteilte der Rabbiner der ganzen Angelegenheit endgültig eine Absage: Wie dem Bericht Neumanns an Heidecker vom 17.10.1930 und dem angehängten Schreiben des Oberrabbiner zu entnehmen ist, hatte Spitzer signalisiert, er nehme an, „der Apparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ [sei] für untauglich befunden worden“.
In seiner Antwort auf den Bericht des Schlachthofdirektors ging Heidecker nicht mehr auf den Niederlegeapparat s.o. „Weinbergscher Apparat“ ein. Stattdessen informierte der Staatsrat über die Pläne des Senats, mit dem Oberrabbiner über die Frage der elektrischen Betäubung zu sprechen. Dass sich nun auch der Zweite Bürgermeister Carl Petersen der Schächtfrage annehmen wollte, zeugt von der Bedeutung, die dem Thema inzwischen beigemessen wurde. Damit hob der in jüdischen Belangen vergleichsweise tolerante Hamburger Senat die Angelegenheit von der bis dahin reinen Verwaltungs- auf die politische Ebene und entzog dem Leiter der Wirtschaftsbehörde die Verantwortung. Nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Erdrutscherfolgs bei den Septemberwahlen zum Reichstag 1930 und mit Blick auf die nächsten Bürgerschaftswahlen hegte die Hamburger sozial-liberale Koalition möglicherweise die Befürchtung, das Schächtthema könnte ein populistisches und antisemitisches Potenzial in sich bergen, dem es rechtzeitig vorzubeugen gelte. Jedenfalls scheint der Senat mit seiner Entscheidung Heidecker, der für die jüdische Position nur wenig Verständnis gezeigt und auf die Einführung des Betäubungszwangs bei Schächtungen hingearbeitet hatte, von weiteren Verhandlungen mit der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen zu haben. Wie diese Verhandlungen dann im Einzelnen weiter verliefen, ist zwar nicht bekannt, aber ein Betäubungszwang wurde in Hamburg erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 verwirklicht.
Insgesamt verdeutlicht die Korrespondenz also, warum es in Hamburg nicht wie in vielen anderen Ländern in der Weimarer Zeit zu einem Schächtverbot oder zu einer parlamentarischen Schächtdebatte kam: Im Stadtstaat Hamburg hätte ein Verbot die Schächtungen nicht verhindert, sondern lediglich verlagert und so wirtschaftlichen Schaden verursacht. Obendrein waren im sozial-liberal regierten Hamburg die politischen Voraussetzungen nicht gegeben. Schließlich geben die Dokumente einen Einblick in das Wirken Samuel Spitzers, das infolge der schlechten Quellenlage und im Gegensatz zu dem seines Nachfolgers Joseph Carlebach bis heute noch kaum erforscht ist.
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Pavel Golubev, geboren 1982 in Riga, hat an der Universität Hamburg Geschichte auf Oberstufenlehramt studiert. Er erforscht im Rahmen seines Promotionsprojektes die Weimarer Debatte um das jüdisch-rituelle Schächten. Seine Forschungsinteressen liegen auf dem Gebiet der deutsch-jüdischen Geschichte der Weimarer Republik, der politischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und der historischen Antisemitismusforschung.
Pavel Golubev, Die Schächtfrage in Hamburg. Diskussionen um ein Verbot in der Weimarer Republik, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-18.de.v1> [20.11.2024].