Gabriel Riesser und die Emanzipationsdebatte in Hamburg

Arno Herzig

Quellenbeschreibung

Nach mehreren antijüdischen Ausschreitungen in Hamburg verfasste 1834 der dortige jüdische Jurist Gabriel Riesser im Auftrag des Comités zur Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse der Israeliten die „Denkschrift über die bürgerlichen Verhältnisse der Hamburgischen Israeliten“, die dem Hamburger Rat als Supplik übergeben wurde. In dieser 120 Seiten umfassenden Schrift, die als Manuskript gedruckt wurde, brachte der Verfasser verschiedene Probleme, die im Zusammenhang mit dem Bürgerrecht Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzungen für die Erlangung des Bürgerrechts waren frei vererbbarer Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten. [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch / Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92f.] standen, zur Sprache, die er mit einem historischen Rückblick verband. Der hier ausgewählte Text aus der Denkschrift umreißt in knapper Form Riessers Argumentation für die Gleichstellung der Juden. Er fordert hier die „volle rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied des Glaubens" als wichtige Voraussetzung für das Wohl des Staates.
  • Arno Herzig

Wende in der Emanzipationspolitik


Hamburg verfügte 1830 mit 8.000 Mitgliedern über eine der größeren Judengemeinden Deutschlands, doch waren die dortigen Juden, verglichen mit der rechtlichen Situation in anderen deutschen Bundesstaaten sehr schlecht gestellt, obwohl sie unter der Franzosenherrschaft bereits die volle Gleichstellung erreicht hatten. Durch den Wiener Kongress von 1815 war eine restaurative Wende in der Emanzipationspolitik in Deutschland eingeleitet worden. Die Vertreter der Hansestädte hatten hier durchgesetzt, dass der Artikel 16 der Bundesakte sehr zum Nachteil der Juden ausfiel, da den Juden nicht die von den Bundesstaaten verliehenen Bürgerrechte zugestanden werden sollten. Damit entfiel in allen Staaten die von den Franzosen herbeigeführte Gleichstellung der Juden. Bis auf die Hansestadt galt aber in fast allen Bundesstaaten für Juden ein, wenn auch eingeschränktes, Bürgerrecht.

Riesser als Sprecher für alle Juden


Durch Gabriel Riessers publizistische Tätigkeit für die Emanzipation der Juden wurde Hamburg zu einem Vorreiter in der zeitgenössischen Emanzipationsdebatte. Riesser entstammte väterlicher- wie mütterlicherseits bedeutenden Rabbinerfamilien. Nach seinem Jurastudium in Kiel und Heidelberg wurde er 1826 „summa cum laude“ zum Dr. jur. promoviert. Er scheiterte jedoch sowohl in Heidelberg wie in Jena mit seinem Vorhaben sich zu habilitieren. Auch mit seinen Versuchen, sich in Hamburg als Advokat niederzulassen, war er erfolglos, da der Rat 1829 sein Gesuch zur Ausübung dieses Berufs ablehnte. In der Folgezeit arbeitete Riesser als Redakteur für die Hamburger Börsenhalle. Finanziell war er durch das Vermögen der Familie, das sein Vater als Lotteriekollekteur erworben hatte, unabhängig. Diese Unabhängigkeit nutzte er, um publizistisch für die rechtliche Gleichstellung der Juden zu kämpfen. Er wurde zum anerkannten Sprecher für alle Juden in Deutschland, was ihm allgemeine Anerkennung einbrachte. Riesser war trotz seiner Herkunft kein religiöser Mensch, dennoch hatte er nie eine Konversion erwogen, um dadurch berufliche Vorteile zu erhalten. Das verstieß gegen sein säkulares Staatsverständnis. Riessers Ideal war ein jüdisches Bürgertum neben dem christlichen Bürgertum in der deutschen Gesellschaft und Kultur.

Forderung nach Trennung von Staat und Kirche


Auf den ersten Seiten der Denkschrift (6f) legt Riesser seinen Grundsatz dar. Mit dem Argument der „rechtlichen Gleichstellung nach dem Principe der Gleichheit vor dem Gesetze ohne Unterschied des Glaubens“ verfolgt Riesser eine neue Strategie, die über die sonst übliche bloße Zurückweisung aller Anschuldigungen gegen die Juden hinausgeht. Mit der Berufung auf das Staatswohl, das nur durch die Gleichheit aller Staatsangehörigen ohne Unterschied des Glaubens gewährleistet sei, tritt Riesser für die Trennung von Staat und Kirche ein und ist somit ein früher Verfechter des säkularen Staats. Es ist ihm klar, dass die geforderte Gleichstellung einen längeren Prozess erfordere, dass aber die „Beseitigung der drückenden Verhältnisse“ der Juden eine Aufgabe der momentanen Politik sei. Riesser ist als Anhänger der Philosophie von einer „fortschreitenden Civilisation“ überzeugt, dass sie „in der Gesetzgebung der civilisirten Staaten täglich mehr Platz gewinnt.“ Mit dieser Feststellung kontrastiert er die Situation in Hamburg mit der Situation in anderen Staaten des Deutschen Bundes. Er versucht Hamburgs Bürger von seiner Argumentation zu überzeugen, indem er ihnen attestiert, dass der von ihm postulierte Grundsatz „von der Mehrheit der Bürger unserer Stadt getheilt“ werde. Die Ausschließung der Juden von fast allen Berufen widerspreche – so Riesser – dem Gemeinwohl und der Moralität. Riesser proklamiert in diesem Zusammenhang den „Schutz und die Freiheit der Arbeit“, vor allem für jene, die nur die Arbeit als Basis für ihre Existenzsicherung haben. Scharf attackiert er hier die Rückständigkeit der Hansestadt, die „im Widerspruch [...] mit allen Verhältnissen der Gegenwart steht“. Zu seiner Forderung nach Abhilfe sieht Riesser einmal eine Verpflichtung gegenüber der „kommenden Generation“ wie auch gegenüber dem Gemeinwohl des Staates.

Riesser argumentiert für Gleichberechtigung


Das Bürgerrecht  Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzungen für die Erlangung des Bürgerrechts waren frei vererbbarer Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten. [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch / Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92f.] war den jüdischen Einwohnern Hamburgs während der französischen Herrschaft (1810 – 1814), als die Stadt zum französischen Kaiserreich gehörte, zuerkannt worden. Ein Versuch des Rats 1814 ein eingeschränktes Bürgerrecht den Juden einzuräumen, war am Widerstand der sogenannten Erbgesessenen Bürgerschaft gescheitert. Nach Aufhebung der alten Dreigemeinde (Altona, Hamburg, Wandsbek) in der Franzosenzeit galt für die neu gebildete Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburg das, wenn auch modifizierte Reglement von 1710, wonach den Hamburger Juden nun gestattet wurde, eine Gemeinde zu gründen und eine Synagoge zu erreichten. Riessers Argumentation richtet sich vor allem gegen das vorenthaltene Bürgerrecht  Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzungen für die Erlangung des Bürgerrechts waren frei vererbbarer Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten. [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch / Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92f.], das den Hamburger Juden den Erwerb von Grundbesitz, die Teilnahme am politischen Leben sowie der Zugang zu allen zunftbestimmten und akademischen Berufen – den des Arztes ausgenommen – verwehrte. In seiner Argumentation geht Riesser von dem Grundsatz aus: Gleiches Recht – gleiche Pflichten und weist im Hinblick auf die Pflichten darauf hin, dass Hamburgs Juden wie alle Einwohner Steuern zahlten und der Wehrpflicht in der Bürgergarde nachkämen. Einen weiteren Aspekt in seiner Argumentation betrifft das Gemeinwohl. Zu Riessers Argumentationsstil gehört es, die durch die Hamburger Politik verursachten schlechten Verhältnisse der dortigen Juden in Kontrast zu allgemein anerkannten moralischen Grundsätzen zu bringen. Der Grundsatz der Gerechtigkeit ergebe sich aus den Pflichten, die die Hamburger Juden wie alle Einwohner erbrächten. Der verweigerte Zugang zum Bürgerrecht  Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzungen für die Erlangung des Bürgerrechts waren frei vererbbarer Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten. [nach: Helmut Stubbe-da Luz, Bürgerrecht, in: Franklin Kopitzsch / Daniel Tilgner (Hrsg.), Hamburg Lexikon, Hamburg 1998, S. 92f.] bedinge, dass sich ein jüdischer Mittelstand kaum entwickeln könne und damit das jüdische Sozialwesen, dessen Kosten Riesser auf 100.000 Schilling veranschlagt, nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Dasselbe gelte für das jüdische Schulwesen. Die gegen die Zulassung der Juden zu den Handwerken vorgebrachten Argumente (Schabbatruhe, Konkurrenz) weist Riesser als unbegründet zurück. Ein Verbot zur Advokatur für jüdische Bürger existiere erst seit 1816 und beruhe auf einer fragwürdigen religiösen Begründung. Auch werden mit derselben Begründung den Juden in Hamburg alle politischen Rechte vorenthalten, da hier – im Gegensatz zu Preußen – nur Lutheranern der Zugang zu politischen Gremien ermöglicht werde. Riessers politische Maxime lautet: „Alle Verhältnisse sind gut und freundlich, die auf Gleichheit und Freiheit gegründet sind; alle sind gehässig und unerfreulich, in denen sich Unfreiheit und durch die Geburt bedingte Zurücksetzung geltend machen“ (S. 116). Das bedeutet: Die Mehrheit handele gegen das Interesse des Gemeinwohls, „wenn sie die Minderzahl an dem natürlichen, freien Gebrauch ihrer Kräfte verhindert“ (S. 117). Trete die Zuerkennung dieses Grundrechts ein, werden die Hamburger Juden „treue, dankbare, dem Gemeinwohl [...] ergebene Bürger sein“ (S. 118).

Hamburg als Vorreiter in der Emanzipationspolitik


Der Hamburger Rat ließ Riessers Supplik unbeachtet. Als er auch mit einer weiteren Supplik an den Rat im Oktober 1835 scheiterte, verließ Riesser resigniert die Hansestadt. Riesser, der sein Leben lang unverheiratet blieb, zog mit seiner Mutter und Schwester nach Bockenheim, das damals zum Kurfürstentum Hessen-Kassel gehörte. Erst 1840 kehrte er nach Hamburg zurück, wo sich die politischen Verhältnisse im Vormärz langsam liberalisierten. Das politische Leben bestimmten nun auch zahlreiche Vereine, denen Riesser beitrat. Als Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und dann der Paulskirchen-Nationalversammlung (1848) trat er für die Trennung von Kirche und Staat ein. Durch eine fulminante Rede erreichte er hier, dass in die Verfassung der Paulskirche der Satz aufgenommen wurde: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuss der staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen Pflichten darf dasselbe keinen Abbruch tun.“ Da der Stadtstaat Hamburg 1849 diesen Grundsatz der Paulskirchenverfassung als Gesetz übernahm, hatte Riesser endlich das Ziel erreicht, für das er seit den 1830er-Jahren gekämpft hatte. Hamburg, das seit 1814 sehr rückständig in der Emanzipationsangelegenheit war, trat nun an die Spitze der Emanzipationspolitik, während Preußen erst 1869 die Emanzipation der Juden im Gesetz festschrieb. Riessers politische Karriere in den 1860er-Jahren steht gleichsam als Symbol für den Erfolg der Emanzipation. Infolge einer neuen liberalen Verfassung, die sich der Stadtstaat 1859 gab, wurde Riesser Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Am 17.10.1860 wurde er als erster Jude in Deutschland in ein Richteramt berufen, indem er vom Hamburger Senat zum Obergerichtsrat am Hamburger Obergericht ernannt wurde. Die Gleichstellung der Juden wurde 1871 durch Reichsgesetz für alle deutschen Staaten festgeschrieben, was Riesser, der 1863 starb, nicht mehr erlebte.

Auswahlbibliografie


Peter Freimark / Arno Herzig (Hrsg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase 1780–1870, Hamburg 1989.
Arno Herzig, Gabriel Riesser, Hamburg 2008.
Uri R. Kaufmann / Jobst Paul, Gabriel Riesser. Ausgewählte Werke, Teilband 1, Wien u. a. 2012.
Moshe Zimmermann, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus, Hamburg 1979.

Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.

Zum Autor

Arno Herzig, Prof. Dr. phil., geb. 1937, war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für deutsche Geschichte an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Protestverhalten von Unterschichten in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, deutsch-jüdische Geschichte, Konfessionalisierung in der frühen Neuzeit.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Arno Herzig, Gabriel Riesser und die Emanzipationsdebatte in Hamburg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 06.04.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-20.de.v1> [20.11.2024].

Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.