Bei der Quelle handelt es sich um einen kurzen Artikel von 54 Zeilen, der zur Eröffnung der Joseph-Carlebach-Schule im Herbst 2007 in dem Gemeinderundschreiben der Jüdischen Gemeinde Hamburg erschien. Verfasser ist der Journalist und Autor Daniel Killy, der zu der Zeit auch als Pressesprecher für die Jüdische Gemeinde in der Hansestadt tätig war.
In dem Artikel berichtet Daniel Killy von der Eröffnung der Joseph-Carlebach-Schule, die am 28.8.2007 im Grindelhof 30 ihre Pforten für 18 Kinder der Vorschule und der ersten Klasse öffnete. Er beschreibt den Tagesablauf und das Konzept der Rhythmisierung des Alltags an der Ganztagsschule, das an die Ideen des Pädagogen und Namensgebers der Schule Joseph Carlebach angelehnt ist. Killy zitiert neben dem Schulleiter Heinz Hibbeler den Rabbiner Shlomo Bistritzky, der die Bedeutung der neuen Schule für den Aufbau des jüdischen Lebens in Hamburg hervorhebt.
Im Jahr 1805 wurde die erste jüdische Schule Hamburgs in der Neustadt gegründet. Auf dem Lehrplan der Talmud Tora Schule standen vor allem traditionelle jüdische Disziplinen, wie das Lesen und Schreiben hebräischer Texte oder das Studium der Tora. In den folgenden Jahrzehnten wurden auch weltliche Fächer, vor allem Deutsch, in den Kanon aufgenommen, um insbesondere den sozial Schwachen bessere Erwerbsmöglichkeiten zu eröffnen. 1911 erfolgte der Umzug in das neue Schulhaus im Grindelviertel, wo inzwischen die Mehrheit der Hamburger Jüdinnen und Juden lebte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Talmud Tora Schule in Volks- und Höhere Schule für Juden umbenannt. 1939 mussten die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrkräfte das Gebäude verlassen und fortan das Schulhaus in der Karolinenstraße besuchen. Im Juni 1942 wurde die Talmud Tora Schule, wie alle anderen jüdischen Schulen in Deutschland, endgültig geschlossen. Hunderte von Schülerinnen und Schülern sowie zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer wurden deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude zunächst von der britischen Besatzungsmacht genutzt, später der Hamburger Schulbehörde überlassen. Ab 1966 war hier der Fachhochschulstudiengang Bibliothekswesen untergebracht.
Als das Gebäude fast vierzig Jahre später im Jahr 2004 an die jüdische Gemeinde übergeben wurde, befand sich der Bau in einem sehr schlechten Zustand. Es mussten zunächst umfangreiche Sanierungsmaßnahmen vorgenommen werden, bevor im Sommer 2007 die Schule (wieder) eröffnet werden konnte. Sie erhielt den Namen des ehemaligen Schulleiters und späteren Oberrabbiners Joseph Carlebach, der die Schule in den 1920er-Jahren grundlegend reformiert hatte. Unter seiner Führung zogen reformpädagogische Ideen in die Schule ein. Hierzu zählten die Einführung moderner Unterrichtsfächer und -methoden, wie zum Beispiel das selbständige Experimentieren, die Projektarbeit oder die Einbeziehung von Kunst und Bewegung in den Unterricht. Auch Klassenfahrten und Schulaufführungen gehörten fortan zum Schulalltag und trugen mit dazu bei, das bislang streng autoritäre Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden aufzubrechen.
Diese Tradition sollte in der neuen Schule im Grindelhof fortgesetzt werden, wie Schulleiter Heinz Hibbeler betont: „Wir wollen anknüpfen an den großen Pädagogen Joseph Carlebach – dessen Methodik des selbstbestimmten Lernens und der Reformpädagogik ist unser Vorbild.“ Hibbeler war zum Zeitpunkt des Artikels 62 Jahre alt und konnte auf langjährige Erfahrungen als Pädagoge und Schulleiter zurückblicken. Bis zu seiner Berufung an die Joseph-Carlebach-Schulehatte er eine Hamburger Gesamtschule geleitet. Er war von der Hamburger Schulbehörde mit einem Teil seiner Arbeitszeit freigestellt worden, um sich an der Konzeption und Gründung der neuen jüdischen Schule zu beteiligen. Nach seiner Darstellung finden die Ideen Joseph Carlebachs auch im Alltag der Schule ihren Niederschlag: „Auf anstrengendes Lernen folgt immer eine Phase der Entspannung durch Sport oder Spiel“. Hier bezieht sich Hibbeler auf die Neuerungen, die Joseph Carlebach zu seiner Zeit in den Schulalltag eingebrachte hatte: Er sorgte für eine Neuausrichtung des Zeichenunterrichts, die Einführung von Werkunterricht oder die Intensivierung des musischen Bereichs, zum Beispiel durch die Gründung eines Schulorchesters. Darüber hinaus ließ er eine neue Turnhalle errichten, um den Schülern mehr Bewegung und sportlichen Ausgleich zu ermöglichen.
Im Mittelpunkt der programmatischen Neuorientierung unter Joseph Carlebach stand jedoch die Synthese von jüdischer und allgemeiner Bildung. Die Schüler sollten eine umfassende säkulare Bildung, aber zugleich eine dezidiert jüdische Erziehung erhalten, um die jüdische Religion und Kultur in allen Facetten kennenzulernen und in ihrer Identität als Juden gestärkt zu werden. Für Carlebach war jüdische Erziehung eine wesentliche Voraussetzung für den Erhalt der Glaubensgemeinschaft.
Diesen Aspekt hebt auch Rabbiner Shlomo Bistritzky besonders hervor. Bistritzky wurde 1977 in Jerusalem geboren und studierte in New York, Manchester und Berlin, bevor er seine Ordination als Rabbiner erhielt. 2003 kam er als Vertreter der jüdischen Organisation Chabad Lubawitsch nach Hamburg, die Geburtsstadt seines 1926 geborenen Großvaters Loeb. Dieser hatte die jüdische Schule im Grindelhof besucht, bevor er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste.
Für Shlomo Bistritzky war die Eröffnung der neuen jüdischen Schule, deren Beirat er angehört, ein persönlich berührendes Ereignis. In dem Artikel im Gemeinderundschreiben weist er auf die besondere Bedeutung der Joseph-Carlebach-Schule für die jüdische Gemeinde hin: „Wir wollen mit der Schule einen Anteil für den Aufbau des jüdischen Lebens in Hamburg leisten und jüdische Tradition und Atmosphäre vermitteln.“ Konkret nennt er das gemeinsame koschere Mittagessen als verbindendes Ritual: „Die Kinder sollen nicht nur jüdische Symbole kennen lernen, sondern vor allem deren Bedeutung. Das Fach jüdische Religion ist ein zentraler Bestandteil des Unterrichts.“
Die jüdische Schule war für Shlomo Bistritzky somit ein zentrales Element für den Aufbau und die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Hamburg, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts über ca. 3.500 Mitglieder verfügt. Im Gegensatz zu den 1920er-Jahren, als Joseph Carlebach die jüdische Identität stärken und den Erhalt der Glaubensgemeinschaft sichern wollte, sollen die gegenwärtigen Kinder und Jugendlichen jüdische Rituale und Traditionen überhaupt erst kennenlernen. Ein Großteil der Gemeindemitglieder stammt aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, wo sie die eigene Religion in der Regel nicht kennenlernen oder praktizieren konnten. Für den Rabbiner Shlomo Bistritzky ist die Joseph-Carlebach-Schule somit eine Möglichkeit, die Kinder der Zugezogenen an die jüdische Religion heranzuführen und die Glaubensgemeinschaft langfristig zu stärken.
Diese Auffassung entspricht den Zielen der Chabad Bewegung, der Shlomo Bistritzky angehört und die, vor allem im Bereich der Kinderziehung, großen Einfluss in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland besitzt. Es handelt sich hierbei um eine orthodoxe Bewegung innerhalb des Judentums, die weltweit agiert und „Gesandte“ in Gemeinden schickt, um dort das jüdische Gemeindeleben zu stärken, bzw. wiederzubeleben. Aufgrund der Organisationsstruktur und der streng-orthodoxen Ausrichtung sowie den messianischen Tendenzen steht Chabad gerade in Deutschland immer wieder in der Kritik. Wie der Artikel andeutet, gab es auch innerhalb der Hamburger Gemeinde Konflikte mit der Chabad Bewegung. So fordert der Schullleiter Heinz Hibbeler, dass sich die Schule von gemeindlichen Kontroversen fernzuhalten habe. „Die Schule muss sich frei entwickeln können, eine jüdische Schule in Hamburg ist überfällig.“ Shlomo Bistritzky ergänzt: „Wenn die Eltern sehen, dass hier eine gute Schule existiert, werden sie ihre Kinder zu uns schicken.“ Hier werden mögliche Vorbehalte gegenüber der Schule deutlich, die von einem Rabbiner beeinflusst wird, der zu Chabad Lubawitsch gehört. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass der zu diesem Zeitpunkt in Hamburg amtierende Landesrabbiner Dov-Levy Barsilay in dem Artikel zwar genannt, im Gegensatz zu Shlomo Bistritzky jedoch nicht zitiert wird. Hier zeichnet sich möglichweise bereits ein Konflikt zwischen den verschiedenen Strömungen in der Hamburger Gemeinde ab, der nur wenige Monate nach der Eröffnung der Joseph-Carlebach-Schule eskalierte und letztlich zur Entlassung von Barsilay führte. Drei Jahre später wurde Shlomo Bistritzky zum neuen Hamburger Landesrabbiner gewählt. Der Artikel zeigt, dass er bereits 2007 in seiner Funktion als Beiratsmitglied Einfluss auf die Erziehung jüdischer Kinder und Jugendlicher in der Hansestadt hatte und als Stimme der jüdischen Gemeinde wahrgenommen wurde.
Die Joseph-Carlebach-Schule erfreut sich seit der Gründung wachsender Beliebtheit. Inzwischen besuchen mehr als 160 Schülerinnen und Schüler das Gebäude im Grindelhof, wo im Sommer 2017 das erste Mal seit fast 80 Jahren wieder der mittlere Schulabschluss abgelegt werden kann.
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Stephanie Kowitz-Harms, Dr. phil., hat über die „Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen, 1985-2001“ promoviert und für drei Jahre das Schülerprojekt Geschichtomat (www.geschichtomat.de) am Institut für die Geschichte der deutschen Juden geleitet. Sie arbeitet als freiberufliche Projektmanagerin im Bildungsbereich.
Stephanie Kowitz-Harms, Die Neueröffnung der Joseph-Carlebach-Schule, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 25.07.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-211.de.v1> [11.11.2024].