Johanna Goldschmidt. „Unsere Kinder sind nicht für uns da, sondern wir für sie.“ Neue Erziehungsideale im Geist von 1848

Inge Grolle

Quellenbeschreibung

Im Sommer 1849 erschien bei Hoffmann & Campe ein Buch mit dem Titel „Muttersorgen und Mutterfreuden. Worte der Liebe und des Ernstes über Kindheitspflege. Von einer Mutter. Mit einer Vorrede vom Seminardirector Diesterweg.“ Die Verfasserin war Johanna Goldschmidt aus Hamburg, die in den elf Kapiteln und insgesamt 220 Seiten ihre Überlegungen zur Kindererziehung darlegte. Beeinflusst waren ihre Ideen durch ihre persönlichen Erfahrungen als Mutter sowie durch die Bewegung der Reformpädagogik. Der bekannte Pädagoge Adolph Diesterweg würdigte in seiner „Vorrede“ den schlichten und klaren Stil des Manuskripts; ein „ehrenvolle[r] Platz“ solle der Schrift zuteilwerden (Vorrede, S. XI). Er trat fortan in einen Briefwechsel mit Johanna Goldschmidt. In dem wechselseitigen Austausch vertieften die beiden die Diskussion um Ideen zur Kleinkindbildung. Sie sind wiedergegeben in K. Müller, Kulturreaktion in Preussen im 19. Jahrhundert. Mit einem Anhang Briefe Fröbels und Diesterwegs, Berlin 1929, S. 110-168. Originale dieser Briefe befinden sich in der Handschriftenabteilung der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek. Leider sind die Antwortbriefe von Johanna Goldschmidt nicht erhalten. Neu war, dass Johanna Goldschmidt den Säugling in den Blick nahm und damit die Frühphase des Kleinkindes, die bislang in den pädagogischen Überlegungen vernachlässigt worden war.

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Johanna Goldschmidt: Frau(enrechtlerin), Mutter und Autorin


Johanna Goldschmidt, geborene Schwabe, wuchs zusammen mit mehreren Geschwistern im jüdisch liberalen und freiheitlichen Geist und im Umfeld der reformjüdischen Tempelgemeinde in Hamburg auf. Zu diesem Kreis gehörte auch Moritz David Goldschmidt, den Johanna 1827 mit 20 Jahren heiratete. Die beiden hatten acht Kinder, die sie in religiös und politisch aufgeklärter Gesinnung erzogen. Nach der aktiven Kindererziehungsphase entfaltete Johanna Goldschmidt ihre schriftstellerische Tätigkeit. 1847 erschien anonym der Briefroman „Rebekka und Amalia“, in dem sie die bedrängte Lage der Juden in Hamburg schilderte. Die Revolution im „Völkerfrühling 1848“ weckte begeisterte Hoffnung auf den Umbruch der restriktiven politischen und sozialen Verhältnisse. Der gleichen Zuversicht begegnete Johanna Goldschmidt auch bei reformbereiten Christinnen. Sie lud einen kleinen Kreis von jüdischen und christlichen Frauen in ihre Wohnung mit dem Ziel, bei regelmäßigen Treffen religiöse und politische Vorurteile zu überwinden und sich gegenseitig zu humanem und fortschrittlichem Handeln zu ermutigen. Diese Gesinnung vereinte jüdische Reformerinnen mit christlichen Dissidenten.

Motivation einer Mutter zur Ratgeberin


Die freisinnigen Frauen ermahnten einander, jede solle nach ihrer inneren Bestimmung praktisch handeln. Und so lag es für Johanna Goldschmidt nahe, ihre Erfahrungen als Mutter publik zu machen. Sie konnte keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, wollte auch nicht mit den verehrten großen Pädagogen wie Rousseau, Pestalozzi und Fröbel wetteifern. Sie schrieb mit dem Herzen und dem Verstand – und vor allem mit der Liebe zum Kind. Anregungen hierzu fand sie bei Friedrich Fröbel, dem Gründer der Kindergärten, auf den sie über Doris Lütkens, die sich in der Kindergartenbewegung engagierte, aufmerksam geworden war. Er betrachtete Kinder wie Pflanzen, deren Wachstum und Gedeihen von der sorgsam auf ihre Natur abgestimmten Pflege abhänge. Dazu bildete er „Kindergärtnerinnen“ aus. Johanna Goldschmidt hatte Fröbel am Ort seines Wirkens im thüringischen Liebenstein kennengelernt. Sie lud ihn nach Hamburg ein, machte ihn und seine Ideen durch Vorträge bekannt und wurde seine Fürsprecherin. Auf ihre Empfehlung hin besuchte Adolph Diesterweg Fröbel in Liebenstein, war ebenfalls fasziniert und schloss Freundschaft mit dem bekannten Pädagogen.

Fröbel konzentrierte sich auf die drei- bis siebenjährigen Kinder. Was aber geschah mit den Säuglingen? Darüber hatte die Pädagogik bislang geschwiegen. Johanna Goldschmidt betrat Neuland. Sie forderte, das Wesen des Kindes von der Geburt, ja vom Beginn der Schwangerschaft an in den Blick zu nehmen, und stellte fest, hier beginne die Pädagogik der Mutter. Mit dem Beobachten jeder Regung des Embryos setze der Pakt zwischen Mutter und Kind ein, den die Mutter nach der Geburt fortführe, indem sie den Säugling in jedem Augenblick beobachte, um seine Bedürfnisse angemessen zu befriedigen. Durch die Schwangerschaft mitsamt ihren Beschwerden wachse die Mutter in ihre Aufgaben hinein. Goldschmidt wandte sich gegen die vorherrschende „Prüderie“ und forderte die jungen Frauen dazu auf, „die wichtigsten Fragen mit ihrem Arzte oder einer erfahrenen Freundin zu besprechen“ (S. 14), um sich das notwendige Wissen anzueignen.

Das Verhältnis von Mutter und Kinds


„Unsere Kinder sind nicht für uns da, sondern wir für sie. In diesem Gedanken, richtig gewürdigt und verarbeitet im Leben, liegt die ganze Pädagogik“ (S. 59). Johanna Goldschmidt schrieb mit ihren genauen Beobachtungen und Deutungen der ersten menschlichen Lebensphase eine anthropologische Erkenntnis nieder, die erst 100 Jahre später der Psychoanalytiker René Spitz wissenschaftlich erforschte: Solange der Säugling kein eigenes Bewusstsein besitze, bleibe er in inniger Symbiose mit der Mutter verbunden. Erst mit den Regungen eines Selbstbewusstseins und dem Abstillen beginne der für Mutter und Kind entsagungsvolle Prozess der Ablösung. Für die Mutter stelle sich die Frage, welche guten oder schlechten Eigenschaften dieses Kind mit auf die Welt gebracht habe (S. 65). Sie entwickele Strategien, wie sie die einen stärken, die anderen bekämpfen könne. Johanna Goldtschmidt bot viele anschauliche Beispiele, betonte aber, dass die Mutter ihre Erziehung zwar aus Liebe, aber auch nach Maßgabe der bestehenden Grundsätze der Moral gestalten und durch ihre feste Überzeugung dem Kind ein leuchtendes Beispiel bieten müsse. In der Verantwortung für ein anderes Wesen habe die Mutter ihren „Beruf“ gefunden. Während Johanna Goldschmidt einerseits den Aufgabenkreis der Frauen als Mütter ganz herkömmlich in der Familie sah, unterschied sie sich in ihrer Herangehensweise insofern von ihren Zeitgenossen, indem sie die Auseinandersetzung mit der Kindererziehung auf eine theoretische Ebene hob – eine bis dahin männliche Domäne – und etwa ihren Ratgeber ausschließlich an Mütter richtete.

Schutz vor fremden Einflüssen


Johanna Goldschmidt richtete ihre Ratschläge an intellektuell gebildete Frauen des gehobenen Bürgertums. Deren Ammen und Kindermädchen kamen meistens vom Lande, aus bäuerlichem Umfeld, und brachten von dort ihre gewohnten Umgangsformen mit. Diese könnten den zarten Stadtkindern unwillentlich schaden, fürchtete Johanna Goldschmidt und gebot Vorsicht (S. 42f). Es scheint paradox, dass sie, die eine Aufhebung der Klassenschranken und Gleichheit für alle erhoffte, den Nachwuchs ihrer eigenen Klasse aber vor den versehentlichen Grobheiten von ungebildeten Dienstpersonen zu schützen empfahl. Tatsächlich setzte sie sich lebenslang dafür ein, dass Mädchen aus ärmeren Verhältnissen Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten erhielten. So gehörte dem Hamburger Fröbel-Verein, den sie 1860 gegründet hatte und lange Zeit leitete, eine Schule an, die Kindergärtnerinnen für den Einsatz in Familien ausbildete und dabei auch das Ziel verfolgte, den Mädchen mit einem Beruf den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Während Goldschmidt mit diesem Ziel etwa aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel für geförderte Ausbildungsplätze größtenteils scheiterte, war die Ausbildung selbst ein großer Erfolg und wurde bereits in den 1870er-Jahren erweitert.

Der Einsatz von fremdsprachigen Kinderwärterinnen wurde von Johanna Goldschmidt kritisiert. Als assimilierte Jüdin fühlte sie sich als gute Deutsche in der Gesellschaft angekommen und legte auch in der Erziehung Wert auf die Vermittlung der deutschen Sprache; „fremde Elemente englischer oder französischer Pädagogie“ (S. 44) sollten hingegen zurückgedrängt werden.

Ein überkonfessioneller Standpunkt


Johanna Goldschmidt versicherte, nach dem Beispiel der Eltern werde das Kind allen Menschen mit Aufrichtigkeit und Wahrheit begegnen und auf die Stimme des eigenen Gewissens zu achten lernen. Das „Dasein Gottes“ glaubte sie dem Kind garantiert durch die autoritative Aussage der Mutter, der es vertraue. Von weitergehender religiöser Beeinflussung riet sie dringend ab, weil das die empfängliche Fantasie des Kindes verstöre (S. 90f, 95). In orthodox-christlichen Kreisen wurde sie deshalb als Atheistin kritisiert, wurden sie und ihre Gesinnungsgenossinnen als Sozialistinnen, Kommunistinnen und Demokratinnen diffamiert. Seit dem Scheitern der Revolution wurden deren Anhängerinnen und Anhänger als Volksverderber geächtet und verfolgt. Das betraf auch die Reformpädagogen und die Fröbelanhängerinnen, unter denen es interessanterweise besonders viele Jüdinnen gab. Am 7.8.1851 verbot ein preußisches Dekret die Kindergärten als „Brutstätten der Demokratie“. Diesterweg verlor sein Amt. Sein Gegner Christian Palmer, Professor der Theologie, verdammte Johanna Goldschmidt als „weiblichen Diesterweg“. Die Bewegung ließ sich jedoch nicht ersticken, Kindergärten gibt es heute in aller Welt. Johanna Goldschmidt ließ ihrem Buch „Muttersorgen und Mutterfreuden“ eine Art Fortsetzung „Blicke in die Familie“ folgen, ein Buch, in welchem sie die in humanem Sinne aufgeklärte Familie als „das heilige Palladium der Nation“ bezeichnete. Indem sie die Familie als „Mikrokosmos der künftigen Gesellschaft“ Inka Le-Huu, Die sociale Emanzipation. Jüdisch-christliche Begegnungen im Hamburger Bürgertum 1830-1871, Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden Bd. XLVIII, Göttingen 2017, S. 71. und Kindererziehung als Frauensache erachtete, maß Johanna Goldschmidt den Frauen innerfamiliär und gesellschaftlich eine bedeutende Rolle zu. In vielen Aufsätzen und Reden sowie als Mitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins wirkte sie für die Sache der Frauen, der Mütter und der Menschheit.

Auswahlbibliografie


Irmgard Maya Fassmann, Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865-1919, Hildesheim u. a. 1996.
Inge Grolle, Johanna Goldschmidt (1806-1884) und Emilie Wüstenfeld (1817-1874). Aufbruch und Wege im Geiste von 1848, in: Helmut Bleiber / Walter Schmidt / Susanne Schötz (Hrsg.), Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Bd. 2, Berlin 2007, S. 179-220.
Inge Grolle, Die freisinnigen Frauen: Charlotte Paulsen, Johanna Goldschmidt, Emilie Wüstenfeld, Bremen 2000.
Ingeborg Grolle, Goldschmidt, Johanna, in: Institut für die Geschichte der deutschen Juden (Hrsg.), Das Jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, Göttingen 2006, S. 93f.
Inka Le-Huu, Die sociale Emanzipation. Jüdisch-christliche Begegnungen im Hamburger Bürgertum 1830-1871, Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden Bd. XLVIII, Göttingen 2017.
Christine Mayer, Macht in Frauenhand. Fallbeispiele zur Berufsbildung im 19. Jahrhundert, in: Martina Löw (Hrsg.) Geschlecht und Macht. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2009, S. 193-213, online: https://doi.org/10.1007/978-3-531-91395-7_10

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Zur Autorin

Ingeborg Grolle, Dr. phil., *1931, arbeitete beim Südwestdeutschen Rundfunk, sowie an Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte Hamburgs. Forschungsschwerpunkt: Biografien, Frauen- und Sozialgeschichte.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Inge Grolle, Johanna Goldschmidt. „Unsere Kinder sind nicht für uns da, sondern wir für sie.“ Neue Erziehungsideale im Geist von 1848, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 11.03.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-275.de.v1> [22.12.2024].

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