Das autobiografische Dokument beginnt Berkowitz Kohn mit einer detaillierten Schilderung der Lebensumstände in seiner Geburtsstadt Leczyca, in der Juden Mitte des 19. Jahrhunderts etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Berkowitz Kohn entstammte einer Kaufmannsfamilie. Die Multiethnizität seiner Heimat prägte seine intellektuellen und politischen Interessen, die sich um Fragen der Minderheitenpolitik, der gesellschaftlichen Solidarität und der nationalen Emanzipation drehen sollten. Des Weiteren beeinflusste der hohe Stellenwert der Bildung in Berkowitz Kohns familiärem Umfeld seine weitere Entwicklung stark. So berichtet Berkowitz Kohn beispielsweise, wie er zu seiner Bar Mizwa einen Weltatlas geschenkt bekam. Daraufhin habe er sich fest vorgenommen, die Welt auch selbst kennenzulernen.
Neben der Muttersprache Jiddisch lernte er Hebräisch und die Sprache(n) seiner Umgebung sowie der großen europäischen Nationen. Das Tagebuch verfasste Berkowitz Kohn nach eigenen Angaben erst in hebräischer Sprache, bevor er Passagen auf Französisch, Polnisch und schließlich Deutsch schrieb. Besonders ausgiebig beschäftigte er sich als junger Erwachsener mit den drei polnischen Teilungen seit Ende des 18. Jahrhunderts, die zum völligen Verschwinden eines eigenständigen Nationalstaats geführt hatten. Dieses Wissen gab er in geheimen patriotischen Vereinen als Grundlage für ein polnisches Nationalbewusstsein weiter. Außerdem beteiligte er sich selbst an der erneuten bewaffneten Erhebung 1863/64 gegen das russische Zarenreich. Die häufigen Verbrüderungsszenen zwischen Polen und Juden konnten nicht über den weit verbreiteten katholisch geprägten Antijudaismus hinwegtäuschen, mit dem Berkowitz Kohn seit seiner Kindheit konfrontiert gewesen war. Nachdem der Aufstand von russischen Truppen blutig niedergeschlagen worden war, entschloss sich Berkowitz Kohn zur Flucht. Über die Zwischenstationen Danzig und Thorn reiste er zunächst nach Bromberg. Dort riet ihm ein Bekannter seines Vaters, nach Hamburg zu gehen, nicht zuletzt weil ein Cousin von Berkowitz Kohn in der Hansestadt lebte. Er traf schließlich am 20.4.1864 in Hamburg ein.
Die Freie Hansestadt erlebte seinerzeit einen starken Wirtschaftsaufschwung. Die Bevölkerungszahl war bereits auf mehr als 250.000 Einwohner gewachsen, darunter waren ungefähr fünf Prozent jüdischer Herkunft. Die jüdische Gemeinde zählte gut 12.500 Mitglieder und hatte das Recht, selbstständig über den Aufenthalt von (hauptsächlich osteuropäischen) Zuwanderern zu entscheiden. Zwei ihrer Mitglieder, die er nicht namentlich nennt, bürgten für Berkowitz Kohn. Der berufliche Einstieg gestaltete sich dennoch schwierig. Er musste sich eine gewisse Zeit als Losverkäufer durchschlagen, eine Tätigkeit, die auch sein Cousin ausübte. Dieser zeigte Berkowitz Kohn nach dessen Ankunft die verschiedenen Facetten und Stadtteile Hamburgs. Er war sowohl fasziniert von dem lebhaften Treiben als auch angewidert von den ihm bisher unbekannten Lastern, wie der Prostitution. In den Arbeitervierteln, in die er durch seine Tätigkeit häufig kam, begegnete ihm große Armut, wodurch seine Sensibilität für soziale Belange geweckt wurde. Die Arbeit als Losverkäufer war generell mühsam und wenig ertragreich, sodass Berkowitz Kohn sie bald aufgab und sich entschloss, einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Er ging bei einem Schirmmacher in die Lehre.
Das Vorhaben in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern, verwarf er letztlich doch. Allerdings wechselte er den Beruf und erhielt eine Anstellung im Weißwarengeschäft seines Vermieters. Wenig später gründete Berkowitz Kohn ein eigenes Ledergeschäft, das sich recht gut entwickelte, aber zugleich harte Arbeit von früh morgens bis spät abends bedeutete. Dadurch erhielt er aber als selbstständiger Kaufmann sowohl den Gewerbeschein der Hansestadt als auch den Status eines Bürgers Recht der Selbstverwaltung; Voraussetzung für die Erlangung des Bürgerrechts war geerbter Grundbesitz, das Leisten eines Bürgereides und die Zahlung eines Bürgergeldes; Adlige waren davon ausgeschlossenen; bis 1814 war es Angehörigen der lutherischen Kirche vorbehalten. Diesen Umstand kommentierte Berkowitz Kohn folgendermaßen: „Ich Hamburger!? Ach, verzeihe mir, mein teures Vaterland, dieses leichtfertige Vorgehen, entschuldige den gehetzten Wanderer, der nach Ruhe sich sehnt, und des heiligsten Pflichtgefühls naher Vergangenheit zu entraten scheint, entschuldige deinen verwaisten Sohn, wenn er in fremdem Schoße ruhen, auf fremder Flur Blumen pflücken will, um damit deinem Andenken Kränze zu winden.“(S. 98)
In diesem Zitat bündeln sich viele Aspekte des schwierigen wie ereignisreichen Lebenswegs von Berkowitz Kohn. Zwischen verschiedenen Ländern hin und her gerissen, zur Flucht gezwungen und in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Herkunft wurde Hamburg schließlich seine Wahlheimat. Seine politische Heimat fand er später jedoch in der Sozialdemokratie, die durch den sozialistischen Universalismus gerade ihm als „gehetzten Wanderer“ einen festen und zugleich kosmopolitischen Anker bot. Zunächst hegte er aber ein schlechtes Gewissen gegenüber Polen, seinem „teuren Vaterland“, dem er aufgrund seiner Sehnsucht „nach Ruhe“ entsagt hatte. Zum Ausgleich für diese Abkehr und zur weiteren Pflege des Andenkens an seine Geburtsheimat wurde er in polnischen Exilvereinigungen aktiv.
Wenig später heiratete Berkowitz Kohn Auguste Gabrielsen, die aus einer orthodoxen Familie stammte. Nach zeitweiliger Entfremdung von der jüdischen Gemeinde in Hamburg kam er durch seine Ehefrau wieder stärker mit dem Gemeindeleben in Berührung. Doch statt sich einzufügen, versuchte er sie zu reformieren, verfasste Abhandlungen über jüdische Geschichte und hielt Vorträge. Als der Antisemitismus gegen osteuropäische Juden in den 1870er-Jahren auch in Hamburg deutlich anstieg, zog er sich nicht wie viele seiner Glaubensbrüder aus dem öffentlichen Leben zurück, um möglichst nicht aufzufallen. Vielmehr rief er einen Polenverein ins Leben, in dem sich christliche und jüdische Emigranten in ihrer Muttersprache unterhielten und sich mit der Lage in ihrer alten Heimat befassten. Berkowitz Kohn stand dem Verein viele Jahre vor.
Darüber hinaus beschäftigte er sich mit der immer dringlicher werdenden sozialen Frage. Die Auswirkungen der beschleunigten Industrialisierung konnte er anhand der Lage des Proletariats in Hamburg beobachten; aber er spürte sie auch am eigenen Leib. Die Entwicklung neuer Maschinen trieb viele Schuster in den Ruin und führte Anfang der 1880er-Jahre auch zur vorübergehenden Insolvenz seines Ledergeschäfts, gerade als sein zehntes Kind geboren worden war. Seine Sympathien für sozialistische Ideen und die Sozialdemokratie verfestigten sich. Generell waren Juden in der sozialdemokratischen Partei überproportional engagiert. Sie stellten weit mehr sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, als es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung nach zu erwarten gewesen wäre. Doch nicht nur dies: Auch viele der bedeutendsten Theoretiker der Partei waren jüdischer Herkunft. Hamburg entwickelte sich seinerzeit zur Hochburg der deutschen Arbeiterbewegung. Die 4.000 Parteimitglieder Mitte der 1870er-Jahre machten fast ein Fünftel der gesamten Mitgliedschaft im Deutschen Reich aus. Zugleich beherbergte die Hansestadt die Vorstände mehrerer Gewerkschaften und war das Zentrum der Genossenschaftsbewegung.
In diesem Umfeld verstärkte auch Berkowitz Kohn sein Engagement in den „sozialen Bewegungen“, wie es in dem Quellenauszug heißt. Die verbreitete Armut und die Lebensbedingungen des Proletariats hatten ihm die Notwendigkeit vor Augen geführt, die sozialen Verhältnisse grundlegend zu ändern. Einen Schlüssel dazu sah Berkowitz Kohn in der aufklärerischen Bildungsarbeit. Er betätigte sich in mehreren Arbeiterbildungsvereinen und in unterschiedlichen genossenschaftlichen Zusammenschlüssen. Mithilfe seiner kaufmännischen Kenntnisse erläuterte er den Arbeitern die größeren ökonomischen Zusammenhänge: „Als man sich die neuen sozialen Gesetze etwas näher besah, fand man in den Fortbildungsvereinen, den Gewerkschaftsberatungen, in der Genossenschaftsbildung bald ein großes Feld, um die Saat der ökonomischen Aufklärung für den Arbeiterstand auszustreuen. In Hamburg-Altstadt, in Barmbek erteilte ich in den Arbeiter-Fortbildungsvereinen Unterricht in Geschichte, in Buchführung und in den Anfängen der Nationalökonomie. Später trat ich in Eimsbüttel in den Vorstand des Fortbildungsvereins und es gelang mir, gute Lehrkräfte für Deutsch, Rechnen, Schreiben, Zeichnen, Stenographie, etc. heranzuziehen.“ (S. 111 f.)
Als Vorstand des proletarischen Bildungsvereins geriet er jedoch aufgrund des 1878 erlassenen Sozialistengesetzes „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, verabschiedet am 19.10.1878 in Konflikt mit der Polizei, die in dem Zusammenschluss eine sozialdemokratische Tarnorganisation vermutete. Diese staatliche Repression konnte jedoch den Aufstieg der Sozialdemokratie nicht aufhalten, weder in Hamburg noch in anderen deutschen Städten. Im Gegenteil steigerten die Sozialdemokraten ihren Stimmanteil im Verlauf der 1880er-Jahre erheblich. Parteinahe Zeitungen wurden gegründet und unterschiedlichste Arbeitervereinigungen ins Leben gerufen. Auch die hanseatische Gewerkschaftsbewegung wuchs.
Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, verabschiedet am 19.10.1878 1890 wurde die Hansestadt im Reichstag unter anderem von den Abgeordneten August Bebel, einem der führenden und einflussreichsten deutschen Sozialdemokraten, und Johann Heinrich Wilhelm Dietz, dem Begründer des J.H.W.-Dietz Verlags, repräsentiert.
Die Genossenschaftsbewegung erlebte seinerzeit ebenfalls einen weiteren Aufschwung. Berkowitz Kohn beteiligte sich 1899 federführend an der Gründung des Konsum-, Bau- und Sparvereins „Produktion“, einer der bedeutendsten sozialistischen Konsumgesellschaften. Bis zu seinem Lebensende am 3.4.1905 blieb er in der Hamburger Arbeiterbewegung aktiv. Seine Bedeutung für die hanseatische Sozialdemokratie belegen die zahlreichen Nachrufe auf den jüdischen Genossen, die sein jahrzehntelanges Engagement würdigten. Auch der „Vorwärts“, das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, berichtete über seinen Tod. Mehrere genossenschaftliche Vereine schalteten Traueranzeigen in der Hamburger Arbeiterpresse. Zur Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf fanden sich über 100 Personen ein. Die Mehrzahl waren sozialdemokratische Genossen, die eine rote und eine schwarze Fahne sowie mehrere Kränze mit roten Schleifen mit sich führten. Der Sarg wurde von Juden getragen und auch die Leichenfeier fand gemäß des jüdischen Ritus statt. Trotz seines jahrzehntelangen Engagements in der Hamburger Arbeiterbewegung geriet Berkowitz Kohn weitgehend in Vergessenheit. Seine Nachfahren setzten allerdings seine Aktivitäten fort. So wurde sein Enkel Reinhard Kohn nach Jahren der Verfolgung und Unterdrückung im Nationalsozialismus nach 1945 nicht nur Hamburger Senatspräsident, sondern als lang gedienter Sozialdemokrat auch zum stellvertretenden Präsidenten am Landessozialgericht berufen.
Die Erinnerungen von Joseph Berkowitz Kohn stellen ein beeindruckendes Dokument der jüdischen Geschichte in Hamburg dar. Paradigmatisch spiegeln sich in dem Lebensweg die Zuwanderung osteuropäischer Juden in die Hansestadt und ihr häufiges Engagement in der Sozialdemokratie, der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
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Sebastian Voigt, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, Fellow am Institut für Soziale Bewegungen (Bochum) und Lehrbeauftragter an der dortigen Ruhr-Universität. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen: Gewerkschafts- / Arbeiterbewegungsgeschichte, Geschichte des Antisemitismus und Geschichte des (Anti-)Kommunismus.
Sebastian Voigt, Sozialdemokrat, Genossenschaftler und Jude. Joseph Berkowitz Kohns Engagement im Hamburg des späten 19. Jahrhunderts, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-87.de.v1> [06.12.2024].