Jacob Sonderling verfasste seine autobiographischen Entwürfe „This is my Life“ nur wenige Jahre vor seinem Tod 1964 in Los Angeles. Die Erfahrungen in Europa vor seiner Emigration in die USA im Jahr 1923 beschrieb er damit nicht als zeitgenössischer Beobachter, sondern in der Rolle eines rückblickenden Erzählers, der sein Lebenswerk mit einem Erfolgsnarrativ verknüpfte. Zwischen den beschriebenen Erlebnissen und deren retrospektiver Deutung lag damit nicht nur ein großer zeitlicher, sondern auch emotionaler Abstand – eine Distanz, die bei der Interpretation mitgedacht werden muss.
Der Quellenauszug beginnt mit Jacob Sonderlings Selbstbeschreibung seiner Ankunft in Hamburg im Jahr 1907 und der innerjüdischen Situation, die er dort als Rabbiner des 1817 gegründeten Neuen Israelitischen Tempels, der „Wiege der weltweiten Reformbewegung“, vorfand. Zuvor war der gebürtige Oberschlesier, dessen Eltern aus Ungarn und Galizien stammten und der mystisch-religiösen Erweckungsbewegung des Chassidismus anhingen, in Göttingen als Rabbiner tätig gewesen.
Wie auch andernorts war es in Hamburg im 19. Jahrhundert, und damit während der Hochzeit der jüdischen Emanzipation in West- und Mitteleuropa, zu einer institutionellen Ausdifferenzierung der jüdischen Strömungen gekommen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Stimmen derjenigen Juden erstarkt, die dem Reformjudentum, später liberales Judentum genannt, anhingen. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich, wo es zu ähnlichen Konflikten zwischen orthodoxen und liberalen Juden um die Vorherrschaft in Kultusfragen kam, erfolgte in Hamburg aber keine institutionelle Loslösung eines Teils der jüdischen Orthodoxie (Austrittsorthodoxie) aus der Einheitsgemeinde. Vielmehr institutionalisierten sich in Hamburg die zunächst zwei und später drei Kultusverbände (orthodox, liberal, konservativ) als Föderation unter dem gemeinsamen Dach der Deutsch-Israelitischen Gemeinde. Ein wichtiger Grund für die Herausbildung dieses „Hamburger System[s]“ war gewesen, dass sich die Gemeindemitgliedschaft in Hamburg seit 1864 rechtlich nur noch auf Freiwilligkeit stützen konnte und damit keine Mitgliedschaft in einem Synagogenverband voraussetzte.
Die Quelle nimmt ihren Erzählfaden also ausgehend von einem Prozess der Binnendifferenzierung der religiösen Strömungen des Judentums im 19. Jahrhundert auf, der zugleich eng mit den Akkulturationsbestrebungen des deutsch-jüdischen Bürgertums verbunden war. Es ging um die Frage, inwiefern Jüdischsein und die jüdische Religion im Alltag lediglich in die Sphäre des Privaten zu verlagern seien und dabei auch im religiösen Gemeindeleben Formen annehmen sollten, die kompatibel zu anderen ‚Konfessionen‘, und insbesondere der protestantisch geprägten Kultur der Mehrheitsgesellschaft, waren.
Im Zuge des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts war zugleich immer stärker die Frage aufgekommen, wie „jüdisch“ der jüdische Identitätsentwurf der Mehrheit der deutschen Juden denn eigentlich noch sei. Ein wichtiger Grund hierfür war, dass der Antisemitismus – als moderne Spielart der Judenfeindschaft – die vollständige gesellschaftliche Integration der Juden auch nach ihrer staatsbürgerlichen Emanzipation bedrohte.
Diesen Aspekt behandelt die Quelle zunächst insbesondere unter Verweis auf den Zionismus, dessen Präsenz sich in Deutschland unter anderem in dem von Sonderling erwähnten 9. Zionistischen Kongress in Hamburg im Jahr 1909 manifestierte. Der Zionismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Westeuropa (noch) keine Massenbewegung war, und dementsprechend auch nur von einer Minderheit der deutschen Juden unterstützt wurde, stellte dem religiös-konfessionellen nun einen ethnisch-nationalen Identitätsentwurf entgegen. Zugleich lag ihm in seiner diplomatisch-politischen Spielart die Hoffnung zugrunde, in Palästina einen zukünftigen jüdischen Staat zu errichten, um den Diasporastatus der Juden – und damit deren weltweite Zerstreuung – überwinden zu können. Erfahrungen mit Antisemitismus oder enttäuschte Integrationshoffnungen führte Sonderling, im Gegensatz zu vielen anderen Juden, die sich von der zionistischen Ideologie angezogen fühlten, jedoch nicht als Grund für seine positive Resonanz auf den Zionismus an. Diese nationaljüdische Strömung interessierte ihn viel eher als eine mögliche Antwort auf die Frage nach einem adäquaten jüdischen Identitätsentwurf, der zugleich die Erosion jüdischer Religiosität als auch die Auflösung des jüdischen Gemeinschaftsgefühls verhindern sollte.
In seinen autobiographischen Skizzen charakterisierte Sonderling den Zustand seines eigenen Jüdischseins, aber auch der deutsch-jüdischen Gemeinschaft insgesamt, bereits für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als defizitär. Gerade die Beschreibungen seiner Kriegserfahrungen fügen sich in das Gesamtnarrativ – nämlich das des desillusionierten Rabbiners in Deutschland, der religiöse und nationale Elemente des Jüdischseins miteinander in Ausgleich bringen wollte – ein. Dieses kann wiederum nur vor dem Hintergrund verstanden werden, dass er zum Zeitpunkt des Schreibens auf ein erfülltes Leben und eine erfolgreiche Karriere in den USA zurückblicken konnte. Kurz nach Kriegsausbruch war Sonderling vom preußischen Kriegsministerium als Feldrabbiner zugelassen worden, um auch den deutschen Soldaten jüdischer Konfession eine spezifische Seelsorge im Kriegseinsatz zukommen zu lassen. Wie viele andere deutsche Juden, die als Soldaten während des Krieges an der Ostfront zum Einsatz kamen, gelangte er mit der deutschen Armee nun in eine Gegend, die inmitten des Hauptsiedlungsgebietes der osteuropäischen Juden lag. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs belief sich deren Zahl, rechnet man die galizischen Juden als Staatsbürger Österreichs mit, etwa auf sechs bis sieben Millionen. Die Bewohner dieses dichten jüdischen Siedlungsgebietes lebten in einer vollkommen anderen jüdischen Welt als dies in Deutschland der Fall war.
Schon rein äußerlich unterschieden sie sich dabei meist durch ihren Habitus von den mehrheitlich akkulturierten deutschen Juden. Dazu zählten etwa das Tragen von Kaftan und Schläfenlocken sowie die bei vielen deutschen Juden als Jargon verpönte jiddische Sprache. Hinzu kam außerdem, dass sie eine religiös-traditionelle jüdische Lebensweise befolgten, wie das strikte Einhalten des Schabbats und der rituellen Speisegesetze. Die Juden Osteuropas betrachteten sich dabei mehrheitlich nicht nur als Angehörige einer religiösen Gemeinschaft, sondern auch einer jüdischen Nation.
Obwohl die Reaktionen deutscher Juden auf das unmittelbare Zusammentreffen mit der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelt und Kultur insgesamt von vielen Ambivalenzen geprägt waren, finden sich in Sonderlings autobiographischen Skizzen keine Anzeichen eines persönlichen Zwiespalts bezüglich seiner Haltung gegenüber osteuropäischen Juden. Seine Beschreibung enthält durchaus punktuelle Elemente eines „Ostjudenerlebnisses“ – eine Bezeichnung, die die Wiederentdeckung (teilweise aber auch die Verklärung) der osteuropäisch-jüdischen Kultur und Religiosität im Rahmen einer persönlichen Kontakterfahrung mancher deutscher Juden mit sogenannten „Ostjuden“ während des Krieges umschreibt. Besonders deutlich wird dies, wenn Sonderling seine persönliche Kontakterfahrung beschreibt: „Hier wurde ich als Jude ohne Attribute akzeptiert. Hier, umgeben von diesen Menschen, erhielt ich die Antworten auf meine Fragen. […] Diese vier Jahre in Russland machten einen Juden aus mir“. Sonderling schilderte die Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Jüdischsein vor allem aus der Perspektive eines Orientierungslosen, der in seiner Zeit als Rabbiner in Hamburg auf viele innere Problemstellungen des Judentums und insbesondere die Frage – „was sind wir, ein Volk oder eine Religion“ – keine Antwort wusste. Für ihn fungierte der Kontakt mit der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelt während des Krieges also insbesondere als Projektionsfläche: erstens, um die dominante Lesart des Jüdischseins in Deutschland zu hinterfragen, und zweitens, um eine Lösung für sein inneres Dilemma zu finden. Seinen religiös-konfessionellen Identitätsentwurf gab er dabei jedoch nicht auf, sondern versuchte ihn, entgegen der Lesart des von ihm bereits zu Beginn der Quelle kritisierten „offizielle[n] Judentum[s]“, mit Aspekten eines ethnisch-nationalen Selbstverständnisses in Ausgleich zu bringen. Damit nahm er – zumindest im Rückblick – eine Mittelposition innerhalb eines säkular-religiösen jüdischen Identitätsspektrums ein, die im amerikanischen Kontext die Bezeichnung „Reform Zionist“ trug.
Sonderling begründete seine Entscheidung für die USA, wohin er 1923 ausgewandert war, damit, dass er dort – und nicht etwa in Osteuropa oder Palästina – einen Mittelweg zwischen Reformjudentum und Zionismus für möglich hielt. Dies unterschied ihn von anderen Juden mit ähnlichem Erfahrungshorizont, die in Europa sesshaft blieben.
Wie er in seinen autobiographischen Skizzen, die an einigen Stellen durchaus etwas pathetisch anmuten, festhielt, hatten seine Kriegserfahrungen in Osteuropa den Entscheidungsprozess hinsichtlich seiner Emigration in die USA entscheidend dynamisiert. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hatte Sonderling den Verantwortlichen der jüdischen Gemeinde Hamburgs erklärt, dass er in Deutschland, wo das Judentum dem Untergang geweiht sei, nicht mehr predigen könne. Gleichwohl scheint sich diese Entscheidung, entgegen ihrer rückblickenden Einfügung in Sonderlings (amerikanisches) Erfolgsnarrativ, erst nach Kriegsende verfestigt zu haben. So hatte Sonderling anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Hamburger Tempels in den Neuen jüdischen Monatsheften nochmals den Versuch unternommen, einen Impuls für die Umsetzung eines synthetischen Mittelwegs in Deutschland zu geben: Nicht nur das religiöse Judentum, so argumentierte er dort, müsse Elemente des nationalen Gedankens aufnehmen, sondern auch der jüdische Nationalismus sei langfristig auf religiöse Elemente angewiesen.
Diese Hoffnungen unmittelbar nach Kriegsende sowie die fünfjährige Zeitspanne, die bis zu seiner Auswanderung noch vergehen sollte, thematisierte er in seinen autobiographischen Skizzen wiederum nicht. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als sich dieser Zeitabschnitt vermutlich nur schwer in sein Gesamtnarrativ einfügen ließ. Im Jahr 1923 schließlich in den USA angekommen, stand er durch in der Vergangenheit geknüpfte berufliche Kontakte nicht vor einer allzu ungewissen Zukunft. Jacob Sonderling blieb auch nach seiner Emigration in die USA als Rabbiner tätig, zunächst an der Ostküste und später in Los Angeles, wo er fast 30 Jahre lebte. Die Frage, die ihn bereits in Hamburg beschäftigt hatte, was Jüdischsein genau ausmache und in Zukunft ausmachen sollte, begleitete ihn auch dort weiter – allerdings unter den spezifischen Voraussetzungen der USA, die er nun wiederum mit seinem geistigen europäisch-jüdischen Erbe in Ausgleich bringen musste.
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Sarah Panter, Dr. phil., geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Universalgeschichte am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: jüdische Geschichte im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert, transnationale Geschichte, Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte, Digital Humanities sowie Mobilitätsforschung.
Sarah Panter, Auf der Suche nach Zugehörigkeit. Jacob Sonderlings „This is my Life“, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 20.02.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-83.de.v1> [21.12.2024].