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1907. Ich wurde zum Rabbiner des
Solomon Tempels in
Hamburg
auserwählt, der
Wiege der weltweiten Reformbewegung. Dort begann ich als
Rebell. Der Tempel von
1818 hatte den Titel Rabbiner
aufgegeben, welcher
in jenen Tagen in Verruf geraten war, und stattdessen wurde der Titel
Prediger getragen.
Ich, ein junger Mann, protestierte und bestand darauf,
Rabbiner zu werden, und schließlich
wurde ein Kompromiss geschlossen und wir trugen den Titel
Rabbiner und
Prediger. Jene Jahre in Hamburg werde ich nie
vergessen. Es gab
Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Es gab Probleme, die ich nicht lösen konnte.
Zu dieser Zeit durchlebten wir den Sturm und Drang der
Selbstfindung – was sind wir, ein Volk oder eine Religion – und das offizielle
Judentum bestand darauf, dass wir kein Volk seien, sondern NUR eine Religion.
Es geschah 1909, als der Zionistenkongress Das stenographische Transkript kann bei Compact Memory eingesehen werden:
http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/3476272
in Hamburg
abgehalten wurde
und Max Nordau in
seiner Kritik der Reformbewegung öffentlich sagte–
„Was haben sie getan, die Reformer? Sie haben aus Synagogen
Tempel gemacht, Kirchen ohne Kreuz.“ Am folgenden Samstag
griff ich den Stier bei den Hörnern und sagte in meiner Predigt, „Ich stimme nicht mit
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meinen anderen Kollegen im Reich überein. Natürlich sind wir ein Volk.“ Die
anwesenden Vorstandsmitglieder
fielen fast in Ohnmacht und sprachen nach der Predigt meinen dreißig Jahre älteren Kollegen
darauf an, „Sind Sie der gleichen Meinung?“ und
er sagte, „Wir sind kein Volk. Wir sind deutsche Staatsbürger jüdischen
Glaubens.“ Und ich antwortete, „Sie haben Recht. Alle Ungarn, die
nach Deutschland
kommen, sagen das Gleiche.“
1914. Der Erste Weltkrieg. Ich hatte Emil G. Hirsch, den
berühmten Rabbiner aus Chicago, in der Schweiz getroffen, und er
hatte prophezeit, „Eines
Tages wirst du nach Amerika kommen.“ Wenige Wochen nach
Kriegsbeginn fand ich meine
Einberufung auf dem Schreibtisch vor und wurde
zum Generalstab Feldmarschall
von Hindenburg abgeordnet.
Dann passierte etwas. Herman
Cohen, der berühmte Philosoph und mein
Lehrer, schrieb mir – „Ich sollte Ihren Brief beantworten. Da
ich keine
einzige Zeile von Ihnen erhalten habe, muss ich schreiben, um eine Antwort zu erhalten.“
Ich schrieb zurück – „Glauben Sie mir, lieber Lehrer, es ist keine Vernachlässigung.
Ich bin Ihr Schüler gewesen, habe Ihre Sprache gesprochen, gewissermaßen Ihre
Gedanken gedacht
– Ihr Alter Ego.“ Doch etwas geschah. Wir überquerten
die Grenze von Deutschland nach Litauen – alles ging
drunter und
drüber – „Ich weiß nicht, wo ich stehe. Wenn ich wieder ich selbst bin, werde ich
Ihnen schreiben.“ Ich habe es nie getan.
Hier traf ich zum ersten Mal Menschen, die nicht versuchten, zu
definieren, was sie sind. Sie waren Juden, man brauchte keine
Predigten, um an ihr Jüdischsein erinnert zu werden. Hier fand ich Geisteswissen,
das nicht auf einen Berufszweig beschränkt war, Würde und innere
Unabhängigkeit. In Deutschland wurden wir stets eingeordnet, Orthodoxe,
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Konservative, Reformierte. Hier wurde ich als Jude ohne
Attribute akzeptiert. Hier, umgeben von diesen Menschen, erhielt ich die Antworten
auf meine
Fragen. Es ist mehr als ein Witz, und bis zum heutigen Tag möchte ich
Litauer sein, falls
ich jemals wiedergeboren werde. Diese vier Jahre in
Russland machten
einen Juden aus mir, und als ich nach der Niederlage Deutschlands nach Hause kam,
konnte ich nicht mehr predigen. Mein Vorstand kam und beschwor mich –
„Rabbiner, wir
haben vier Jahre lange auf Sie gewartet und für Sie gebetet.“ Ich sagte, „Ich
kann nicht bleiben – ihr seid tot – ich will leben.“
Und so eröffnete sich mir 1923 ein neues Leben – Amerika. […]
Jacob Sonderling, This is my Life (Memoiren), Los Angeles, 1961-1964 [Auszug], S. 3-5 (übersetzt von Insa Kummer), veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-83.de.v1> [07.12.2024].