Jitte Glückstadts Testament. Seelenheil und Fürsorge in der frühen Neuzeit

Monika Preuß

Quellenbeschreibung

Jitte Glückstadt, eine ledige Altonaer Jüdin, ließ am 8.4.1774 ihr Testament niederschreiben. Durch ein Testament (von lateinisch testare = bezeugen) lässt sich regeln, was nach dem Tod mit dem eigenen Besitz geschehen und wie die Bestattung und Trauerfeier aussehen sollen. Dies machte auch Jitte Glückstadt. Zwei Männer kamen an ihr Krankenbett und ließen sich ihren letzten Willen diktieren. Das Testament, wie es heute erhalten ist, ist aber nicht das hebräische oder jiddische Original, sondern eine Übersetzung ins Deutsche. Dies ist erwähnenswert, da sich Hochdeutsch im 18. Jahrhundert noch nicht zur Umgangssprache unter den deutschen Juden entwickelt hatte. Die Übersetzung wurde für die nichtjüdischen Ämter nach dem Tod von Jitte Glückstadt am 8.7.1774 Das Todesdatum ist durch den erhaltenen Grabstein von Jitte Glückstadt bekannt. Siehe dazu die epigraphische Datenbank des Steinheim-Instituts zum Friedhof Hamburg-Altona, Königstraße (Grabstein von Jette bat Mattitjahu ben Mosche Elasar). angefertigt, damit auch die nichtjüdischen Altonaer verstehen konnten, welche Verfügungen Jitte getroffen hatte. Testamente von Jüdinnen und Juden wurden nur dann übersetzt und bei nichtjüdischen Behörden hinterlegt, wenn es hierfür auch einen Grund gab. Ein solcher Grund konnte sein, dass die Schulden den Nachlass überstiegen. Da dann einige Gläubiger, zu denen eben auch Nichtjuden zählen konnten, auf ihr Geld verzichten mussten, sollten diese auch darüber informiert sein, ob überhaupt ein nennenswerter Nachlass vorhanden war, aus dem die Schulden beglichen werden konnten.
  • Monika Preuß

Zur Person von Jitte Glückstadt


Über das Leben von Jitte Glück­stadt wis­sen wir nur sehr wenig. Aus ihrem Tes­ta­ment kön­nen wir sehen, dass sie un­ver­hei­ra­tet war. Sie hatte min­des­tens zwei Schwes­tern, von denen eine ver­hei­ra­tet war und eine Toch­ter hatte. Ihre an­de­re Schwes­ter Keile Glück­stadt war, wie wir den An­ga­ben aus dem Tes­ta­ment ent­neh­men kön­nen, an­schei­nend sehr krank, denn sie war im jü­di­schen Spi­tal un­ter­ge­bracht ge­we­sen. Einen Hin­weis dar­auf, dass Jitte keine arme Frau ge­we­sen ist, geben die sei­de­nen Klei­der, die sie ihrer Nich­te ver­mach­te. We­ni­ger wohl­ha­ben­de­re Frau­en hät­ten Klei­der aus Baum­wol­le ge­tra­gen, arme Frau­en Klei­der aus Lei­nen oder Wolle.

Testamentarische Regelungen: Seelenheil und irdischer Besitz


Ihr Tes­ta­ment mach­te Jitte Glück­stadt im Kran­ken­bett. Daran kön­nen wir sehen, dass im 18. Jahr­hun­dert ein Tes­ta­ment nicht ohne kon­kre­ten An­lass aus­ge­stellt wurde, son­dern erst so­bald je­mand mit sei­nem Tod rech­ne­te. Zu­gleich dien­ten die bei­den Män­ner, denen sie ihren letz­ten Wil­len dik­tier­te, als Zeu­gen, dass Jitte Glück­stadt bei kla­rem Ver­stand an­ge­trof­fen wor­den war. Dies war wich­tig, damit spä­ter nie­mand das Tes­ta­ment an­fech­ten konn­te. Die ers­ten und damit wich­tigs­ten Re­ge­lun­gen, die Jitte in ihrem Tes­ta­ment vor­nahm, dien­ten der Sorge um ihr See­len­heil. Für Men­schen im 18. Jahr­hun­dert war es wich­tig, „rich­tig“ – also vor­be­rei­tet – zu ster­ben. Die Sorge um das See­len­heil war da­mals eine von allen Schich­ten und Re­li­gio­nen ge­teil­te Sorge. Le­dig­lich die Art und Weise, wie Ster­ben­de sich vor­be­rei­te­ten und wel­che Maß­nah­men für die Zeit nach ihrem Tod sie fest­leg­ten, va­ri­ier­te je nach Re­li­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit. Für Juden spe­zi­fisch war das ge­mein­schaft­li­che Ler­nen für die Seele einer oder eines Ver­stor­be­nen, wo­durch der Über­gang in die jen­sei­ti­ge Welt er­leich­tert wer­den soll­te. Ler­nen, also das ge­mein­sa­me Stu­di­um des Tal­muds, ist im Ju­den­tum eine re­li­giö­se Pra­xis. An­läss­lich eines To­des­falls wid­men sich die Ler­nen­den be­stimm­ten, dem An­lass ent­spre­chen­den Text­stel­len.

Jitte Glück­stadt be­rei­te­te sich auf ihren Tod vor und ord­ne­te ihre An­ge­le­gen­hei­ten, um be­ru­higt diese Welt ver­las­sen zu kön­nen. In ihrem Tes­ta­ment legte sie fest, wer die er­for­der­li­chen Ge­be­te für ihre Seele ver­rich­ten soll­te. Einen Teil die­ser Ge­be­te über­nah­men dabei Wai­sen, die dafür be­zahlt wur­den. Die­ses Geld ging an die Wai­sen­kas­se und half so, die Kos­ten der Wai­sen­ver­sor­gung zu tra­gen. Auch die Be­er­di­gung und die Be­glei­tung ihrer Lei­che durch zwei Frau­en in einer Kut­sche legte sie fest. Eben­so re­ser­vier­te sie eine nicht genau fest­ge­leg­te Summe Geld für die Her­stel­lung eines Grab­stei­nes. Ihre Sorge galt aber nicht nur ihrer ei­ge­nen Seele, son­dern sie legte auch eine be­stimm­te Summe fest, die das Ver­rich­ten des To­ten­ge­bets am To­des­tag ihrer Mut­ter wei­ter­hin si­chern soll­te.

Die Re­ge­lun­gen über die wei­te­re Ver­tei­lung ihres Be­sit­zes wer­den erst an zwei­ter Stel­le for­mu­liert. Sie be­zie­hen sich so­wohl auf den ver­blie­be­nen Rest an Geld wie auch auf das Hab und Gut von Jitte Glück­stadt. Auf­fäl­lig ist, wie wenig Jitte be­ses­sen hat. Neben den oben er­wähn­ten Sei­den­klei­dern, wer­den noch Hem­den (also Un­ter­klei­der) ge­nannt. Dar­über hin­aus soll­te eine ihrer Schwes­tern Pæschen Glück­stadt einen Leuch­ter aus Mes­sing sowie sechs Tel­ler aus Zinn er­hal­ten.

Versorgung kranker Familienangehöriger


Be­son­de­re Sorge be­rei­te­te Jitte Glück­stadt der Un­ter­halt für ihre kran­ke Schwes­ter Keile, die im Al­to­na­er jü­di­schen Spi­tal un­ter­ge­bracht ge­we­sen war. Da Keile nicht ver­hei­ra­tet war und ihre El­tern nicht mehr leb­ten, muss­ten ihre Ge­schwis­ter für sie sor­gen. Ob Jitte diese Ver­pflich­tung aus be­son­de­rer Nähe zu ihrer Schwes­ter auf sich nahm, oder weil kein an­de­rer dazu be­reit war, lässt sich nicht sagen. Spi­tä­ler waren eine Mi­schung aus Kranken-​ und Ar­men­häu­sern. Wer konn­te, ar­bei­te­te und half so, einen Teil der Un­ter­brin­gungs­kos­ten selbst zu tra­gen. Ver­wal­tet wurde das Spi­tal, in dem Jit­tes Schwes­ter un­ter­ge­bracht war, von einer Bru­der­schaft. Die Mit­glied­schaft in einer sol­chen Bru­der­schaft war eine be­son­de­re Ehre und wurde mit ge­sell­schaft­li­cher An­er­ken­nung ent­lohnt.

Als Tes­ta­ments­voll­stre­cker setz­te Jitte Glück­stadt den Kran­ken­kas­sie­rer Rabbi Lip­mann La­do­mir ein, der für die Ein­trei­bung und Ver­wal­tung der Gel­der des Spi­tals zu­stän­dig war. Da­durch woll­te sie wohl si­cher­stel­len, dass das Spi­tal genau über ihr Ver­mö­gen un­ter­rich­tet war und keine fal­schen Vor­stel­lun­gen ent­ste­hen konn­ten. Es waren be­reits Schul­den für die Ver­sor­gung von Keile auf­ge­lau­fen und Jit­tes Nach­lass reich­te allem An­schein nicht aus, um so­wohl die Schul­den wie auch die in Zu­kunft noch an­fal­len­den Pfle­ge­kos­ten zu de­cken.

Wie heut­zu­ta­ge auch, exis­tier­te ein ge­sell­schaft­li­cher Kon­sens, wie viel Geld einem Mensch für die De­ckung sei­ner ei­ge­nen (Grund-​) Be­dürf­nis­se zur Ver­fü­gung ste­hen soll­te, man spricht in die­sem Zu­sam­men­hang vom Exis­tenz­mi­ni­mum. Dabei wurde auch fest­ge­legt, wel­che Art von Be­gräb­nis je­man­dem zu­stand. Auf­fäl­lig ist, dass im 18. Jahr­hun­dert die nicht un­be­trächt­li­chen Aus­ga­ben für To­ten­wa­che, To­ten­ge­be­te, Be­er­di­gung und Grab­stein als un­an­tast­bar gal­ten. Die Sorge um das See­len­heil galt als so wich­tig, dass die Aus­ga­ben auch dann nicht ge­stri­chen wer­den durf­ten, wenn die Ver­sor­gung eines kran­ken Fa­mi­li­en­mit­glieds da­durch nicht mehr ge­leis­tet wer­den konn­te. Gläu­bi­ger ak­zep­tier­ten in der Regel, dass diese Aus­ga­ben vor Be­glei­chung der Schul­den vom Nach­lass ab­ge­zo­gen wur­den.

Woher nahm das Spi­tal dann das Geld, das für den Un­ter­halt und bei är­me­ren Ver­stor­be­nen auch für die Be­er­di­gung an­fiel? Zum einen zahl­ten die Mit­glie­der der Bru­der­schaft, die für das Spi­tal zu­stän­dig war, einen Mit­glieds­bei­trag. Dar­über hin­aus war die Bru­der­schaft dar­auf an­ge­wie­sen, dass Fa­mi­li­en für er­brach­te Leis­tun­gen reich­lich Geld gaben be­zie­hungs­wei­se ohne spe­zi­el­len An­lass Geld spen­de­ten. Die Schwach­stel­le eines sol­chen Kran­ken­pfle­ge­sys­tems liegt auf der Hand: Wer nicht zah­len konn­te, der wurde auch nicht im Spi­tal auf­ge­nom­men. Wes­sen Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge nicht mehr zah­len konn­ten oder woll­ten, war auf den guten Wil­len der Bru­der­schaft an­ge­wie­sen.

Grund­la­ge für die Tä­tig­keit der Bru­der­schaf­ten, die sich um Kran­ke und Ster­ben­de küm­mer­ten, war der Glau­be an ein Wei­ter­le­ben der Seele nach dem Tod. Die Sorge um das rich­ti­ge Ster­ben, den leich­ten Über­gang der Seele aus dem Kör­per und eine wür­di­ge Be­hand­lung des toten Kör­pers war das ei­gent­li­che An­lie­gen. Darin un­ter­schei­det sich die frühe Neu­zeit, also un­ge­fähr die Zeit zwi­schen 1500 und 1800, von der Mo­der­ne. Für­sor­ge war in ers­ter Linie die Er­fül­lung re­li­giö­ser Pflich­ten. Diese Pflich­ten um­fass­ten selbst­ver­ständ­lich auch die Sorge für Arme und Kran­ke. Die Gren­ze für sol­che Für­sor­ge­leis­tun­gen bil­de­te das fi­nan­zi­el­le Leis­tungs­ver­mö­gen des Ein­zel­nen.

Für wen fühl­te Jitte Glück­stadt sich ver­ant­wort­lich? In ers­ter Linie für ihre weib­li­chen Ver­wand­ten, denen sie ihre wert­volls­ten Be­sitz­tü­mer über­ließ. An zwei­ter Stel­le ihrer kran­ken Schwes­ter Keile Glück­stadt, für deren Un­ter­halt sie die Ver­ant­wor­tung über­nom­men hatte. Erst an drit­ter Stel­le kamen Per­so­nen, die nicht mit ihr ver­wandt waren. Neben den Män­nern, die für sie be­zie­hungs­wei­se ihre Mut­ter beten soll­ten, sind hier be­son­ders die Wai­sen er­wäh­nens­wert. Diese el­tern­lo­sen Kin­der waren in der un­glück­li­chen Si­tua­ti­on, dass ihre engs­ten Ver­wand­ten ge­stor­ben waren, sie hat­ten daher nie­man­den, der sich für ihr Schick­sal ver­ant­wort­lich fühl­te. Des­halb be­stand eine be­son­de­re Ver­ant­wor­tung aller, sich der Wai­sen an­zu­neh­men und damit einen Aus­gleich für die nicht vor­han­de­ne Fa­mi­lie zu schaf­fen.

Damit spie­gelt Jitte Glück­stadts Tes­ta­ment die we­sent­li­chen Ele­men­te früh­neu­zeit­li­cher Für­sor­ge wider: Sie war re­li­gi­ös mo­ti­viert und rich­te­te sich zu­al­ler­erst an die nächs­ten Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Sie schuf einen Aus­gleich für die­je­ni­gen, die keine Fa­mi­lie be­sa­ßen.

Jitte Glück­stadts Tes­ta­ment ent­hält viele für die frühe Neu­zeit ty­pi­sche Ele­men­te, die sich eben­so in christ­li­chen Tes­ta­men­ten fin­den wür­den: Das Tes­ta­ment wurde im Mo­ment des na­hen­den Todes ver­fasst und re­gel­te zu­al­ler­erst die re­li­giö­sen Not­wen­dig­kei­ten von Ster­ben­den. Den­noch fin­den sich auch jü­di­sche Spe­zi­fi­ka, die Ha­lacha war selbst­ver­ständ­li­che Grund­la­ge des Han­delns. So etwa waren Ler­nen und Beten die we­sent­li­chen re­li­giö­sen Prak­ti­ken, die der Seele einen mög­lichst leich­ten Über­gang in die jen­sei­ti­ge Welt er­mög­li­chen soll­ten.

Do­ku­men­te, die über Jü­din­nen Aus­kunft geben kön­nen, sind deut­lich sel­te­ner als sol­che, die über Män­ner spre­chen. Das trifft auch auf Tes­ta­men­te zu, die in ihrer Mehr­zahl von Män­nern ver­an­lasst wur­den. Umso wich­ti­ger sind Zeug­nis­se von und über jü­di­sche Frau­en, denn sie er­lau­ben, einen Ein­blick in ver­gan­ge­ne weib­li­che Le­bens­wel­ten zu ge­win­nen.

Auswahlbibliografie


Gabriele Zürn, Die Altonaer jüdische Gemeinde (1611–1873). Ritus und soziale Institutionen des Todes im Wandel, Münster u. a. 2001.

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Zur Autorin

Monika Preuß, Dr. phil., ist Mitarbeiterin im „Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland“ in Heidelberg. Sie hat mehrere Arbeiten zur jüdischen Geschichte im frühneuzeitlichen Europa veröffentlicht.

Zitationsempfehlung und Lizenzhinweis

Monika Preuß, Jitte Glückstadts Testament. Seelenheil und Fürsorge in der frühen Neuzeit, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-50.de.v1> [14.05.2025].

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