Im Zuge der Verwaltung enteigneter Vermögenswerte durch die Nationalsozialisten setzte sich die britische Militärregierung das Ziel, die bereits 1946 begonnene Eigentumskontrolle zu präzisieren, die auch das enteignete Vermögen NS-Verfolgter mit einbezog. Am 20.10.1947 erließ sie die Allgemeine Verfügung Nr. 10 aufgrund des Gesetzes Nr. 52 der Militärregierung betreffend Sperre und Kontrolle von Vermögen. Die Verordnung verpflichtete Personen, die seit dem 30.1.1933 Vermögenswerte „besessen, verwaltet oder beaufsichtigt hatten“, eine Vermögenserklärung abzugeben. Diese Erklärung sollte in Form des Formulars MGAF/P abgegeben werden: Erklärung des jetzigen Eigentümers oder Verwalters von Vermögen, das unter Artikel I Absatz 1 der allgemeinen Verfügung Nr. 10 fällt. Vgl. Art. II Anzeigepflicht der Allgemeinen Verfügung Nr. 10 aufgrund des Gesetzes Nr. 52 der Militärregierung betreffend Sperre und Kontrolle von Vermögen, in: Rudolf Harmening / Wilhelm Hartenstein (Hrsg.), Rückerstattungsgesetz. Kommentar zum Gesetz über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände (Gesetz Nr. 59 der Militärregierung). Frankfurt a. M. 1950, Blatt Nr. 50. Dass ein solches Formular entwickelt werden sollte, war bereits im Winter 1944 festgelegt worden: „It is contemplated, however, that shortly thereafter the submission of detailed reports of such blocked property will be required.” Handbook for Military Government in Germany prior to defeat or surrender. Dec. 1944, Part III, 340 Blocking Control (d). Die Formulare wurden von der britischen Militärregierung auch an die Banken in der britischen Besatzungszone übergeben, um Informationen über beschlagnahmtes Eigentum zu erhalten und es zu sperren. Durch einen Artikel der Allgemeinen Verfügung Nr. 10 waren insbesondere Bankverwalter verpflichtet, Enteignungsvorgänge anzuzeigen, derer sie Zeuge geworden oder an denen sie beteiligt gewesen waren. Aus diesem Grund füllte Rudolf Herms, der Inhaber und Verwalter der Hamburger Bank Herms & Co., das hier gezeigte Formular am 19.4.1948 aus und „erklärte“ darin die Vermögensentziehung seiner ehemaligen Kundin Elsa Saenger.
Es begann ein etwa 20 Jahre andauerndes Entschädigungsverfahren, geführt zwischen Akteuren der Finanzbehörde in Hamburg und Freiburg im Zeitraum 1948 bis 1966. Das Formular ist Bestandteil eines mehrere hundert Seiten umfassenden Aktenkonvoluts in den Staatsarchiven Freiburg und Hamburg (621-1/77_13).
Das Formular war als ein Instrument zur Etablierung einer Entschädigungspraxis entwickelt worden. Es wurde im britischen Sektor des besetzten Deutschlands von ehemals Verfolgten, Erben, Anwälten oder auch Institutionen wie der Jewish Claims Conference benutzt, um entzogene Vermögenswerte zunächst zu „erklären“, im Grunde aber, um sie zurückzufordern. Im Jahr 1948 zirkulierten sehr viele dieser Formularvordrucke. Oft wurden innerhalb eines Verfahrens mehrere Formulare parallel eingereicht: Für den jeweiligen Erstattungsanspruch wurde jeweils ein eigenes Formular ausgefüllt, zum Beispiel eines für entzogene Wertpapiere, eines für Immobilien, eines für Bankkonten.
Das Formular besteht aus einem reproduzierten Vordruck auf einer Seite DIN A4-Papier und ist in englischer Sprache mit deutscher Übersetzung verfasst. Im einleitenden Abschnitt wird nach der örtlichen Lage des Vermögens sowie nach den Personalien des Erklärenden gefragt. Die Abschnitte I. und II. ermöglichen Angaben zur Entziehung von unbeweglichem bzw. beweglichem Vermögen. Der Verwalter führt Wertpapiere in Höhe von 10.500 Reichsmark sowie weitere Zahlungen in Höhe von 5.198,77 Reichsmark als Werte an, die aufgrund einer Verfügung des Polizeidirektors Baden-Baden am 24.7.1941 an die Deutsche Bank, Filiale Baden-Baden zur „Verfügung des Polizeidirektors gem. Schreiben d. Polizeidirektors Baden-Baden“ „übertragen“ wurden. Schreiben des Polizeidirektors, Abt. Jüdisches Vermögen an H.A. Jonas Söhne & Co. vom 24. Juli 1941, Akte F 196/2 Nr. 4652, S. 9, StAFr. Als Geschädigte wird Elsa Saenger mit der letzten Meldeadresse Werderstr. 5 in Baden-Baden genannt.
Im Einleitungsteil des Formulars passen nicht alle abgefragten Kategorien zu den Antworten des Ausfüllers, weshalb er die „Frage“ nach dem Vornamen mithilfe des Buchstaben „x“ durchstreicht und die vordefinierte Linie mit seiner Antwort überschreiben muss. Diese Inkongruenz verweist auf die Normierungsversuche im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen in der nachkriegsdeutschen Entschädigungspraxis und die defizitäre Erfahrung in diesem Arbeitsfeld. Das Formular der britischen Militärregierung wurde mit dem Zweck geschaffen, eine Basis für Entschädigungsvorgänge zu ermöglichen. Über bestimmte Fragen und Kategorien sollte das Formular die Einordnung und Kategorisierung vollzogener Enteignungen ermöglichen. Die Intention war, eine vergleichbare und einheitliche rechtsstaatliche Administration zu gewährleisten. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis einer an Normen und Standardisierungen orientierten Bürokratie zu individuellen Enteignungsschicksalen.
Auf dem Formular befinden sich vier verschiedene Schriftebenen. Die Basis bilden die vorgedruckten Paragraphen, Felder und Linien. Mit der Beschriftung durch die Schreibmaschine fügte der Verwalter des Bankhauses eine zweite, mit seiner Unterschrift, seinem Durchstreichen eines nicht für ihn zutreffenden Abschnittes sowie seiner handschriftlichen Korrekturen eine dritte Schriftebene hinzu. Der handschriftliche Vermerk „Bitte zurücksenden“ eines Behördenmitarbeiters in Sütterlin bildet die vierte Schriftebene. Die vier Schriftebenen legen unterschiedliche Zeit- und Erfahrungsschichten offen. Weitere Anmerkungen auf dem Formular wie farbige Unterstreichungen, Seitennummerierung, Kürzel und Zahlen eines vermutlich fortlaufenden Nummerierungssystems verweisen als Benutzungsspuren auf administrative Arbeitsschritte verschiedener Beamte und Angestellter in den deutschen Finanzbehörden. Daraus lässt sich der Weg des Formulars durch verschiedene Behörden und Abteilungen sowie die komplexen Abläufe rekonstruieren.
Ebenso wie das Formular als ein Artefakt zu sehen ist, welches Wissensbestände über die Verwaltungspraktiken der deutschen Nachkriegsbürokratie offenlegt, ist es auch eine Quelle, die dabei hilft, antisemitische Enteignungsvorgänge zu rekonstruieren. Wie der Verwalter selbst im Formular angibt, hieß das Bankhaus vor der „Arisierung“ H. A. Jonas Söhne & Co. Nach dem Tod von Otto Jonas 1926 führte sein Schwiegersohn Rudolf Herms das Bankhaus weiter. Mit der beginnenden Arisierungswelle wurde ihm die Firma überschrieben und seit dem 15.9.1941 unter dem Namen Herms & Co. geführt, womit eine familieninterne „Arisierung“ gelang. Aufgrund persönlicher Erfahrungen (seine Schwiegermutter Emmy Jonas emigrierte, seine Ehefrau Elisabeth Herms geb. Jonas entkam nur knapp der Deportation, seine drei Schwägerinnen wurden samt Familie in Konzentrationslagern ermordet) engagierte Rudolf Herms sich nach Kriegsende für die Rückerstattung entzogener Vermögenswerte der Überlebenden seiner Familie sowie seines ehemaligen jüdischen Kundenstamms. Es kann daher vermutet werden, dass Rudolf Herms sich auch deshalb – neben seiner Anzeigepflicht – für die Restituierung im Fall Elsa Saenger einsetzte und zwar unabhängig davon, ob die enteignete Person noch lebte oder nicht – ob es sich also um erbenloses Vermögen handelte oder nicht. Im Fall Elsa Saengers war die Erbfolge nicht ganz eindeutig. Elsa Saengers Neffe Felix Löwenthal, den sie zu Lebzeiten zum Alleinerben bestimmt hatte, war ebenfalls von den Nazis verfolgt und ermordet worden. Die Frage der Erbfolge und Erbberechtigung stellt im Entschädigungsverfahren von Elsa Saenger eines von mehreren Entscheidungskriterien dar.
Als administratives Dokument der Verwaltungspraxis verweist die Quelle auf das individuelle Schicksal der Hamburgerin Elsa Saenger. Am 23.11.1897 heiratete Elsa Auguste Belmonte im Alter von 19 Jahren Julius Saenger. Er war Kaufmann und später Geschäftsführer der Handelsfirma SECO (Simon, Evers & Co. GmbH) in Hamburg, die 1873 gegründet wurde und bis heute erfolgreich weltweit operiert. Das Unternehmen unterhielt früh Handelsbeziehungen zu Japan und wurde zu einem wichtigen Faktor für die Internationalisierung und wirtschaftliche Entwicklung Hamburgs. Die ersten Importe aus Japan bestanden aus Industriegütern, Arzneimitteln und Chemikalien, die ersten Exporte aus Deutschland waren Drahtstifte und Farben. Bis heute ist SECO ein wichtiger Importeur für das japanische Papiergeschäft und die Zuckerindustrie.
Aufgrund finanzieller Probleme der Firma mussten Saengers ihr Wohnhaus in Hamburg verkaufen und zogen in ihr Keitumer Sommerhaus. Das Ehepaar war mit dem Künstler und Landschaftsmaler Franz Korwan befreundet. Korwan, der unter dem Namen Sally Katzenstein geboren worden und ebenfalls jüdischer Abstammung war, konvertierte 1908 zum Protestantismus. Nach Julius Saengers Tod im Jahr 1929 lebten Elsa Saenger und Franz Korwan weiter gemeinsam in Keitum.
Aufgrund der Verschärfung antisemitischer Maßnahmen auf der Insel Sylt zogen beide im Frühjahr 1937 nach Wiesbaden. Am 7.9.1938 waren Elsa Saengers Bankkonto und Wertpapiere unter „vorläufige Sicherungsanordnung“ gestellt worden. Unmittelbar nach der Sperrung ihres Kontos war Elsa Saenger nach Baden-Baden gezogen und fortan in der Werderstr. 5 gemeldet. Hier wurde sie bald im Zuge der „Leihhausaktion“ dazu verpflichtet, ihren Schmuck und Edelmetallbesitz gegen unzureichende Entschädigung beim Pfandleihhaus abzuliefern. Entgegen der Abgabefrist der Aktion am 31.3.1939 lieferte Elsa Saenger ihr Vermögen jedoch erst am 12.5.1939 ab. Am 24.7.1941 wies die Abteilung des Polizeidirektors Baden-Baden das Bankhaus H.A. Jonas Söhne & Co. – es war zu diesem Zeitpunkt also noch nicht arisiert – an, ihren aktuellen Saldo sowie ihr Wertpapierdepot an die Deutsche Bank Filiale Baden-Baden zu überführen. Diese Praxis war eigentlich den Finanzbehörden vorbehalten, die Polizei unterstützte sie in der Ausführung der nationalsozialistischen Enteignungspolitik.
Der Vermerk in der Vermögenserklärung, dass Elsa Saenger „früher“ in der Werderstraße 5 in Baden-Baden gelebt hat, verweist auf ihre Deportation. Am 22.10.1940 wurde Elsa Saenger gemeinsam mit Franz Korwan und weiteren 6.502 Frauen und Männern auf Befehl Hitlers und unter der Aufsicht des pfälzischen Gauleiters Josef Bürckel sowie des badischen Gauleiters und Reichsstatthalters Robert Wagner aus Baden und der Pfalz über das Elsass in das südfranzösische Lager Gurs deportiert, das sie nach dreitägigem Transport erreichten. Diese auch als „Wagner-Bürckel-Aktion“ bezeichnete systematische Deportation stand in direktem Zusammenhang mit der Verschleppung von etwa 30.000 Elsässern sowie 24.000 Lothringern und fungierte auch als „Vorreiter“ für die ein Jahr später beginnenden Massendeportationen. Gegenüber den französischen Behörden waren die deportierten Jüdinnen und Juden als elsässisch deklariert worden, da es zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich ein Abkommen gab, das Frankreich dazu verpflichtete, alle Juden französischer Staatsangehörigkeit in südfranzösischen Lagern unterzubringen. Die Franzosen waren im Vorfeld nicht über die Transporte informiert worden und mussten unvorbereitet reagieren. Vgl. Düwell, Kurt: Die Rheingebiete in der Judenpolitik des Nationalsozialismus vor 1942. Beitrag zu einer vergleichenden zeitgeschichtlichen Landeskunde. Bonn 1968, S. 257f. Am 20.2.1941 wurden Elsa und Franz in das Lager Noé weitertransportiert. Franz Korwan verstarb hier, der weitere Weg von Elsa Saenger lässt sich nicht sicher rekonstruieren. Über das Sammellager Drancy wurde sie zwischen 1941 und 1944 nach Auschwitz transportiert und dort ermordet. Offiziell wurde Elsa Saengers Tod auf den 31.5.1944 datiert. Bekanntmachung/Anzeige im Journal officiel du Commandement en chef francais en Allemagne vom 10. Juni 1947 (Scan abrufbar in der französischen Nationalbibliothek unter https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k97710779/f11.item (19.10.18). Lagerakten Direction du Camp de Gurs, No. 4413, StA Freiburg. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs finden sich widersprüchliche Sterbedaten (1941 und 1944). Auch auf den beiden Stolpersteinen, die für Elsa Saenger in Keitum auf Sylt sowie in Baden-Baden verlegt wurden, sind die Angaben nicht einheitlich. Auf dem Keitumer Stein steht „tot 1944 auf Transport nach Auschwitz“, auf dem Stein in Baden-Baden ist „1944 Auschwitz ermordet“ vermerkt. Als Ort ist Auschwitz jedoch bestätigt. Umso mehr verwundert es daher, dass sie zum einen mit ihrem Mann Julius eine gemeinsame Grabstätte auf dem Keitumer Friedhof auf Sylt hat und dass zum anderen die Inschrift auf ihrer Grabplatte („Baden-Baden 1941“) nicht korrekt ist.
Trotz offener Fragen und Wissenslücken eignet sich das Formular zur Vermögenserklärung als Schlüsseldokument der deutsch-jüdischen Geschichte. Die mikrohistorische Untersuchung des Formulars zeigt die Verknüpfung der Biographie Elsa Saengers mit der deutschen Bürokratie- und Verwaltungsgeschichte nach 1945.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Sina Sauer, M. A., ist Kulturanthropologin und promoviert im Graduiertenkolleg des Hamburger Sonderforschungsbereichs 950 „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ zu Gestaltung, Gebrauch und Wirkmacht von Verwaltungsformularen in NS-Entschädigungsverfahren.
Sina Sauer, Die verwaltete Entschädigung: Enteignung und ,Wiedergutmachung‘ am Beispiel von Elsa Saenger, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 16.10.2019. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-255.de.v1> [09.10.2024].