Der Artikel „Die israelitische Freischule in Hamburg“ wurde von dem Schriftsteller Dr. Bernhard Heßlein geschrieben, der in Hamburg und später in Berlin lebte. Er trat als Verfasser von Abhandlungen über die Geschichte der Juden in Hamburg und Berlin hervor. Der Artikel besteht aus insgesamt drei Teilen, die am 3. Januar, 10. Januar und 31. Januar 1843 in der von dem Orientalisten Julius Fürst herausgegebenen Zeitschrift „Der Orient. Berichte, Studien und Kritiken für jüdische Geschichte und Literatur“ in Leipzig erschienen. Die Zeitschrift „Der Orient“ richtete sich an ein gebildetes jüdisches Publikum und versuchte auch christliche Leser und Beiträger zu erreichen bzw. zu gewinnen. Die Zeitschrift stand in einer ganzen Reihe von Publikationen, deren thematischer Fokus auf der Emanzipation der europäischen Juden lag. Diese Debatte nahm ausdrücklich auch Fragestellungen zur religiösen und pädagogischen Reform auf. Der Beitrag Heßleins fügte zu dieser Debatte bezogen auf die Situation in Hamburg bedeutende Beobachtungen ein.
Als Vorbedingung für eine Emanzipation der Juden forderten Nicht-Juden, aber auch Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Juden hätten sich zuerst „bürgerlich zu verbessern“. Erst wenn dies geschehen sei, könne über eine rechtliche Gleichstellung mit der Mehrheitsgesellschaft nachgedacht werden. Im Zentrum dieser Forderung nach Verbesserung stand neben der Reform der Synagoge die Einführung eines modernen Schulunterrichts, der den traditionellen Unterricht in der jüdischen Elementarschule, dem Cheder, ablösen sollte.
Die Unterrichtssprache war deutsch und das Curriculum war darauf ausgerichtet, die jüdischen Schüler an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft heranzuführen. Die erste jüdische Freischule war bereits 1778 in Berlin gegründet worden. Die Hamburger Freischule entstand 1798, genau 20 Jahre später. Hier sollten den Schülern die zentralen Elemente einer allgemeinen Bildung nahegebracht werden. Zudem ging es ausdrücklich auch darum, fundierte Kenntnisse des Judentums, der jüdischen Geschichte, Kultur und Literatur zu vermitteln. Die jüdischen Reformer waren der Auffassung, dass nur durch diese Wissensvermittlung die Verbindung zum Judentum aufrechterhalten werden könne. Gleichzeitig sollten die Schulen dazu beitragen, der Assimilation zu trotzen, die häufig Indifferenz gegenüber dem Judentum oder sogar die Konversion zur Folge hatte.
Die in Heßleins Beitrag vorgelegte Darstellung der Israelitischen Freischule in Hamburg geht auf die zentrale Zielsetzung der Reform des jüdischen Schulwesens ein und auf die Notwendigkeit, diese auch in Zukunft weiter zu verfolgen. Zugleich dient dem Autor die Israelitische Freischule in Hamburg als Folie für eine Analyse der Errungenschaften und Misserfolge hinsichtlich der bürgerlichen Gleichstellung der Juden. Im dritten Teil des Beitrags würdigt Heßlein die bereits erfolgte erfolgreiche „Verbesserung der Juden“, die er in erster Linie durch die Einführung moderner jüdischer Schulen verwirklicht sieht. Heßlein zieht in diesem Teil gleichzeitig ein Resümee vor dem Hintergrund der innerjüdischen Diskussionen und Konflikte. Seine Kritik des traditionellen Unterrichts zielt auf die schlechte Verfassung der Schulen und insbesondere auf die unzureichende Qualifikation des Lehrpersonals, die zu zahlreichen Mängeln geführt habe: „Dass der Religionsunterricht ungenügend und fehlerhaft war, der hebräische Unterricht hinten angelegt, die jüdische Geschichte gar nicht beachtet ward.“ (S. 33) Grundsätzlich sei das Lehrpersonal nicht für einen zeitgemäßen Unterricht vorbereitet gewesen und habe vollständig versagt: „Vielen Lehrern fehlt die moralische, den meisten die pädagogische Durchbildung, mithin Mangel an sittlicher Haltung und Würde, Missgriffe in der Methode. Disziplin zu wenig auf die Würde des Menschen beruhend, Strafen unpsychologisch.“ (S. 33) Diese Einschätzung fand sich bei einer ganzen Reihe jüdischer Aufklärer und Reformer in Bezug auf den traditionellen jüdischen Schulunterricht wieder.
Durch die Bemühungen der vergangenen Jahre habe sich die Situation jedoch vollständig zum Positiven verändert. Die Juden hätten sich durch den modernen Schulunterricht im besonderen Maße „moralisch […] verbessert.“ (S. 33) Allerdings habe diese „Verbesserung“ nicht zu einer weiteren Veränderung des gesetzlichen Status geführt: Zwar erfreuten sich die Juden in Hamburg einer vergleichsweise „guten Stellung“. Jedoch habe die Gesetzgebung auch in dieser Stadt „nur wenig für sie getan“. (S.33) Heßlein spart nicht mit Kritik an den staatlichen Stellen in Hamburg, wo noch immer „harte Beschränkungen“ (S.33) und „Vorurteile“ (S.33) gegenüber der jüdischen Bevölkerung herrschten. Hier nimmt Heßlein auf ein grundsätzliches Problem Bezug: Während die in Deutschland lebenden Juden tatsächlich große Integrationsleistungen vollbracht hatten, werde ihnen von staatlicher Seite noch immer die rechtliche Gleichstellung verwehrt.
Die „gute Stellung“ beruhte im Wesentlichen auf den Errungenschaften der bürgerlichen „Verbesserung“ als deren Konsequenz Juden Teil des Hamburger Bürgertums geworden waren, ohne allerdings die gleichen Rechte wie die nichtjüdischen Hamburger zu genießen. Heßlein bestand deshalb darauf, sich nicht auf dem Erreichten auszuruhen. Vielmehr bedeuteten die Veränderungen und Modernisierungen innerhalb der Gesellschaft auch neue Herausforderungen für die Israelitische Freischule in Hamburg. Er forderte einen ständigen Erneuerungsprozess ein, der sicherstellen sollte, dass die aktuellen Bedürfnisse in der Ausrichtung der Schule aufgegriffen würden: „Was früher ausreichte, ist jetzt nicht mehr genügend, der Verfall der Schule nach ihrem höchsten Schwung sollte darauf aufmerksam gemacht haben.“ (S. 33) Heßlein benutzt das Bild des neuen „Triebrades“ (S. 33), welches das alte ersetzten sollte. Bezogen auf die Herausforderungen der Gegenwart hält Heßlein fest: „Hinter diesem Fortschritt darf der Jude nicht zurückbleiben; gute Schulen aber sind die notwendigen Bedingungen einer raschen, zeitgemäßen Fortbildung“. (S. 34) Um den Erfolg der „israelitischen Bürgerschule“ (S.34) weiterhin zu sichern, sei es notwendig diese mit ausreichenden finanziellen Mitteln auszustatten, denn gegenwärtig sei sie vom Niedergang bedroht. Dabei erkannte Heßlein die Notwendigkeit, dass die jüdischen Hamburger selbst für die Finanzierung der Schule eintreten müssten, weil dies von Seiten des Senats nicht zu erwarten sei. Nur durch ein solides Erziehungssystem sei man auch den zukünftigen Herausforderungen gegenüber vorbereitet und „der Stein des Weisen wäre gefunden“ (S. 34). Hier wird erneut die Hoffnung des Autors deutlich, dass eine erfolgreiche Reformierung der Bildung den Staat dazu bringe, seinen Teil der Vereinbarung der bürgerlichen Verbesserung einzulösen und den Juden mittelfristig Rechtsgleichheit eingeräumt werde.
Der Artikel verweist darauf, dass die nachweislichen Erfolge der jüdischen Bürger Hamburgs in der „bürgerlichen Verbesserung“ staatlicherseits noch nicht durch vollständige rechtliche Gleichstellung honoriert worden seien. Diese erfolgte in Hamburg erst 1849 bzw. endgültig 1860 mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung.
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Carsten Schapkow, Dr. phil., ist Associate Professor im Fachbereich Geschichte an der University of Oklahoma. Seine Forschungsschwerpunkte sind: deutsch-jüdische Beziehungen und moderne jüdische Historiographie vom 18. bis ins 20. Jahrhundert.
Carsten Schapkow, Erziehung und Reform. Die Israelitische Freischule im Kontext der bürgerlichen Gleichstellung, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 06.12.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-196.de.v1> [21.12.2024].