Ansprache Max Brauers anlässlich der Grundsteinlegung der Synagoge an der Hohen Weide, 9.11.1958

    Ansprache von Max Brauer (16'45''), Erstsendedatum: 09.11.1958; Norddeutscher Rundfunk.

    Ver­ehr­ter Herr Lan­des­rab­bi­ner, Ex­zel­lenz, meine Damen und Her­ren, mit dem heu­ti­gen Tage be­ginnt sich die schmerz­lichs­te aller Wun­den zu schlie­ßen, die uns hier in Ham­burg in den Jah­ren des Schre­ckens und der Fins­ter­nis, mit der Zer­stö­rung der Got­tes­häu­ser ge­schla­gen wor­den sind. Ich sage „die schmerz­lichs­te aller Wun­den“, denn mit der Ver­bren­nung der Syn­ago­gen, der De­mo­lie­rung und Schlie­ßung der jü­di­schen Bet­sä­le in Ham­burg und Al­to­na hatte sich viel Schlim­me­res voll­zo­gen als die Zer­stö­rung und Be­schä­di­gung von Kir­chen wäh­rend des von Hit­ler ent­fal­te­ten to­ta­len Krie­ges. Hier stand im tiefs­ten Frie­den die Hölle auf gegen Gott und die Men­schen, wur­den die Dä­mo­nen und Fu­ri­en ent­fes­selt. Was hier ge­sche­hen ist und was uns heute noch mit Trau­er und Em­pö­rung er­füllt, war die Läs­te­rung Got­tes, dem alle Men­schen­kin­der das Licht die­ser Welt ver­dan­ken. Die Er­in­ne­rung an diese schreck­li­che Zeit kann nicht ein­drucks­vol­ler her­auf­be­schwo­ren wer­den, als mit den Wor­ten Leo Ba­ecks, des Ober­rab­bi­ners aus Ber­lin, der zur 15. Wie­der­kehr der No­vem­ber­po­gro­me Fol­gen­des schrieb: „Wie oft sind die Bil­der jener Nacht, in der der große Fre­vel ge­schah, dass die jü­di­schen Got­tes­häu­ser zer­stört wur­den, wie­der, ob wir es woll­ten oder nicht, vor uns hin­ge­tre­ten? Wie­der mein­ten wir, auch wenn wir die Ohren ab­wand­ten, die Stim­men zu hören, die in jener Nacht uns zu­ge­ru­fen hat­ten: ‚Die Syn­ago­gen bren­nen!‘“ Was ist es, was da­mals ver­nich­tet wor­den ist? Nicht nur die jü­di­schen Got­tes­häu­ser wur­den zer­schla­gen, son­dern mit ihnen bra­chen Pfei­ler und Stüt­zen eines mensch­li­chen Bun­des, auf den man ver­traut hatte. Eines, so hatte man ge­dacht, binde doch alle immer wie­der zu­sam­men: Eine Ehr­furcht vor der Stät­te, zu der Men­schen kom­men, damit sie aus der Enge und der Not des Tages sich zu dem Ewi­gen er­he­ben. Dort­hin, wo das Un­sicht­ba­re an sie her­an­tritt und die un­end­li­che Stil­le sich an sie wen­det. Da­mals, in jener Nacht als man [ver­lo­re­nes Ma­te­ri­al] un­ver­ständ­lich es wis­sen woll­te oder nicht, ist auch an die Kir­chen im Lande die Hand an­ge­legt wor­den. An sie auch, denn die Syn­ago­ge ist ge­schicht­lich und geis­tig die Mut­ter aller Kir­chen. Eine und die­sel­be Ge­wiss­heit will hier und dort sich of­fen­ba­ren, mögen auch Weise und Weg ver­schie­den sein, jü­di­sche, christ­li­che Got­tes­häu­ser haben am letz­ten Ende ein un­teil­ba­res Schick­sal. Und was dem Einen an­ge­tan wird, ist zu­gleich dem An­de­ren zu­ge­fügt. So man­cher Tag da­nach hat in Deutsch­land dies deut­lich ge­macht, und nur der, der blind sein woll­te, hat es weder da­mals noch spä­ter­hin ge­se­hen. Noch ein an­de­res ist da­mals zer­stört wor­den: Eine le­ben­di­ge Ge­schich­te, die auf dem deut­schen Boden und aus deut­schen Boden auf­ge­wach­sen war und die eine Ver­hei­ßung frucht­ba­rer Zu­kunft in sich trug, sie ist da­mals zer­schla­gen. Es ist für den Senat un­se­rer ehr­wür­di­gen alten Han­se­stadt und für unser Lan­des­par­la­ment, wie für alle Bür­ger un­se­rer Stadt die guten Wil­lens sind, eine Eh­ren­pflicht an der Voll­endung des guten Wer­kes, das mit die­ser Grund­stein­le­gung be­gon­nen wer­den soll, mit­zu­wir­ken. Damit su­chen wir die Ehr­furcht vor dem Sa­kra­len wie­der­her­zu­stel­len. Und wir sind glück­lich, dass sich Re­gie­rung und Lan­des­par­la­ment an der Schaf­fung auch der not­wen­di­gen ma­te­ri­el­len Fun­da­men­te zum Bau die­ses neuen Got­tes­hau­ses be­tei­li­gen kön­nen. Wir kön­nen in die­ser Stun­de nicht umhin, un­se­re Ge­dan­ken um zwan­zig Jahre zu­rück schwei­fen zu las­sen, bis zu­rück in jene Jahre, in denen die jü­di­sche Ge­mein­de in Ham­burg und Al­to­na ins­ge­samt sechs­und­zwan­zig­tau­send See­len zähl­te. Es war, wie hier schon ge­sagt ist, eine blü­hen­de Ge­mein­de und die Mit­glie­der die­ser Ge­mein­de waren an­ge­se­he­ne und gute Bür­ger un­se­rer Stadt. Sie ge­hör­ten allen Be­ru­fen an. Her­vor­ra­gen­de Mit­glie­der ihrer Ge­mein­de haben sich im Senat und in un­se­ren Be­hör­den große Ver­diens­te er­wor­ben. Ich nenne Se­na­tor Karel Cohn und Staats­rat Lipp­mann. Be­deu­ten­de jü­di­sche Ge­lehr­te waren eine Zier­de un­se­rer Uni­ver­si­tät: Der Phi­lo­soph [ver­lo­re­nes Ma­te­ri­al] un­ver­ständ­lich Ernst Cas­si­rer, der Kunst­his­to­ri­ker Erwin Pan­of­sky, der Pri­vat­ge­lehr­te Aby War­burg oder Al­brecht Mendelssohn-​Bartholdy, aus der Fa­mi­lie des gro­ßen Mu­si­kers. Einer Fa­mi­lie, die sich wie so viele an­de­re ihrer Art durch meh­re­re Ge­nera­tio­nen dem Geis­tes­le­ben un­se­rer Stadt ver­bun­den haben. Män­ner wie Al­bert Bal­lin und Max War­burg haben in der Welt einen her­vor­ra­gen­den Ruf, der auch den Ruhm Ham­burgs mehr­te unter den Kauf­leu­ten, Ree­dern und Fi­nanz­fach­leu­ten. Auch unter der Blüte un­se­rer Kauf­mann­schaft, gab es viele jü­di­sche Namen. Ich darf und will aber jene vie­len an­de­ren nicht ver­ges­sen, die ein­fa­che Bür­ger waren und hier in un­se­rer Mitte ihr Glück und ihr Heim be­sa­ßen. Einer der Män­ner, deren Namen mich be­son­ders stark an­rührt, ist vor­hin von un­se­rem ver­ehr­ten Herrn Lan­des­rab­bi­ner ge­nannt wor­den. Es ist der Name un­se­res frü­he­ren Al­to­na­er Ober­rab­bi­ners Car­le­bach, mit dem ich mich per­sön­lich be­son­ders ver­bun­den ge­fühlt habe. Wir müs­sen heute die schmerz­li­che Frage auf­wer­fen, was ist aus ihnen allen ge­wor­den. Ein jü­di­sches Eh­ren­mal drau­ßen in Ohls­dorf spricht von sie­ben­tau­send toten Ge­mein­de­an­ge­hö­ri­gen, aber es star­ben noch viele an­de­re, die jü­di­scher Her­kunft waren und ihre Her­kunft nicht ver­leug­nen woll­ten. Heute zählt die jü­di­sche Ge­mein­de ein­tau­send­drei­hun­dert­neun­zig An­ge­hö­ri­ge, von ihnen leb­ten vor 1933 viel­leicht rund drei­hun­dert in un­se­rer Stadt. Diese tra­gi­sche Ent­wick­lung ist für uns alle eine schmerz­li­che Mah­nung an jene furcht­ba­re Zeit, die auch mich im Jahre 1933 aus der Hei­mat­stadt ver­trie­ben hat. Jedes Mal, wenn ich wäh­rend der Jahre mei­ner Emi­gra­ti­on in an­de­ren Län­dern Eu­ro­pas, in den USA oder auch im fer­nen Osten, Ge­ret­te­te traf, wurde mein Herz leich­ter. Wir grü­ßen heute alle diese Ge­ret­te­ten, die ein­mal zu uns ge­hör­ten. Und wir beu­gen uns in Ehr­furcht und Schmerz vor den Er­schla­ge­nen. Als Sie, meine Damen und Her­ren von der jü­di­schen Ge­mein­de, nach 1945 an die schwe­re Auf­ga­be her­an­gin­gen, ihre so tra­gisch de­zi­mier­te Ge­mein­de wie­der auf­zu­bau­en, fan­den sie noch mehr Grä­ber Ihrer Freun­de als Trüm­mer vor. Jeder Fort­schritt im Wie­der­auf­bau Ihrer In­sti­tu­tio­nen be­weg­te uns und fand auch im Ham­bur­ger Rat­haus star­ke An­teil­nah­me. Als Krö­nung aller Be­mü­hun­gen um den Wie­der­auf­bau Ihrer Ge­mein­de, um die sich be­son­ders Herr Harry Gold­stein große Ver­diens­te er­warb, folgt nun die Grund­stein­le­gung Ihrer Syn­ago­ge, die das Herz Ihrer Ge­mein­de sein wird. Sie haben sich lange mit einem Pro­vi­so­ri­um be­hel­fen müs­sen, es war auch für uns schmerz­lich, dass die­ser Be­helf un­zu­rei­chend war. Das hat nun ein Ende ge­fun­den. Ham­burg gibt sich selbst einen Teil sei­ner Würde zu­rück, wenn es sich mit sei­nen jü­di­schen Mit­bür­gern und der jü­di­schen Ge­mein­de ver­bin­det, um ein neues wür­di­ges Got­tes­haus zu schaf­fen. Möge darin der Frie­de für die Un­an­tast­bar­keit Ihres Glau­bens woh­nen, mit dem wir uns alle brü­der­lich und mensch­lich nahe füh­len. Nie­mand hat wohl er­grei­fen­der und schö­ner die Hoff­nung auf ein neues Be­gin­nen aus­ge­drückt, als der von mir schon zi­tier­te Leo Baeck, der im Zwangs­la­ger von The­re­si­en­stadt für sei­nen Glau­ben lei­den muss­te. Er hat aus­ge­spro­chen, was uns auch in die­ser Stun­de be­wegt, indem er schrieb: „Das letz­te, das ent­schei­den­de Wort ist das einer Hoff­nung, wel­che bleibt. Der ech­ten, der wah­ren Hoff­nung und der Jude darf sagen, der alten jü­di­schen Hoff­nung. Aus dem ewi­gen Gebot und aus dem ewi­gen ‚Du sollst’ des Wor­tes Got­tes spricht sie, diese Hoff­nung, Gebot und Trost und Zu­ver­sicht in einem. Denn das ist das, die blei­ben­de Hoff­nung in der Mensch­heits­ge­schich­te. Der Mensch, der ein­zel­ne, wie das Volk, kann und soll neu be­gin­nen zu jeder Zeit. Diese Kraft der Um­kehr zu Gott ist in jeden hin­ein­ge­legt und vor jedem öff­net sich der Weg des Ewi­gen. Aus der Zer­stö­rung her­vor spricht die Mah­nung, die zu­gleich die Hoff­nung ist: ‚Bah­n­et dem Ewi­gen den Weg‘.“

    [] Ver­le­sung der Ur­kun­de der jü­di­schen Ge­mein­de zur Grund­stein­le­gung der Syn­ago­ge []

    Indem wir den Grund­stein fügen zu die­ser neuen Syn­ago­ge wei­hen wir diese Syn­ago­ge zur dau­ern­den Ehre und zum Ge­dächt­nis der Toten. Den Le­ben­den zur Mah­nung, den Kom­men­den eine Stät­te, die den Weg zu ech­ter Mensch­lich­keit öff­net.

    Quellenbeschreibung

    Zur Grundsteinlegung des Synagogenneubaus hielt der Erste Bürgermeister Hamburgs, Max Brauer, am 9.11.1958 eine Rede. In der Hohen Weide wurde in Hamburg das erste Synagogengebäude der Nachkriegszeit errichtet. Zuvor hatte die kleine jüdische Gemeinde ihre Gottesdienste in provisorisch eingerichteten Beträumen abhalten müssen. In seiner etwa 12-minütigen Rede gedachte Max Brauer einerseits der Verfolgung und Ermordung jüdischer Hamburger während der NS-Zeit, würdigte aber andererseits auch die Anstrengungen zum Wiederaufbau jüdischen Lebens nach 1945. Die Rede wurde am 9.11.1958 im Radio gesendet und ist im NDR-Tonarchiv überliefert. Verantwortlich für die Sendung zeichnete laut Archivblatt die Redaktion „Reportage“. Das Tondokument umfasst neben Brauers Ansprache, die von der Verlesung der Urkunde zur Grundsteinlegung unterbrochen wird, auch die Aufzeichnung der Rede des Rabbiners Ludwig Salomonowicz. Am Ende der Aufnahme sind die symbolischen Spatenstiche für die Grundsteinlegung sowie die Segnung durch den Rabbiner zu hören.
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    Empfohlene Zitation

    Ansprache Max Brauers anlässlich der Grundsteinlegung der Synagoge an der Hohen Weide, 9.11.1958, veröffentlicht in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:source-146.de.v1> [29.03.2025].