Am 9.11.1958 wohnten der Grundsteinlegung der Synagoge an der Hohen Weide / Ecke Heymannstraße Vertreter der jüdischen Gemeinde, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Hamburger Bürgerschaft, der Landeskirche und verschiedener Vereinigungen ebenso wie Interessierte bei. Auch der katholische Weihbischof war anwesend. Das medial beachtete Ereignis fand 20 Jahre nach den Novemberpogromen und dreizehn Jahre nach der Neugründung der jüdischen Gemeinde in Hamburg statt. Es reiht sich, ausgehend von der Einweihung einer Synagoge in Dresden im Jahr 1950, in die Eröffnung zahlreicher Synagogen und Betsäle in verschiedenen jüdischen Gemeinden in den folgenden beiden Jahrzehnten ein.
Dass es sich bei der Grundsteinlegung nicht nur um ein für die jüdische Gemeinde wichtiges Ereignis handelte, sie vielmehr als (erinnerungspolitischer) Festakt für die Hansestadt Hamburg gewertet wurde, unterstreicht der Erste Bürgermeister Max Brauer in seiner Rede. In seinen Ausführungen geht er sogar noch weiter, wenn er davon spricht, dass sich die „schmerzlichste aller Wunden zu schließen“ beginne und sich die Stadt mit dem Bau einen Teil ihrer Würde zurückgebe. Brauer verknüpft den für ihn so zentralen Wiederaufbau der Stadt Hamburg mit den Neuanfängen jüdischen Lebens. So seien alle Fortschritte im Wiederaufbau der Gemeindeorganisationen stets vom Senat unterstützt worden. Seine Teilnahme an der Grundsteinlegung bezeichnet er als „Ehrenpflicht“ und sieht sie als „Krönung aller Bemühungen um den Wiederaufbau“ an, konnte doch der Bau einer Synagoge als Symbol für neu entstehendes jüdisches Leben und als Schritt hin zur Festigung des von Max Brauer angestrebten „anderen Deutschlands“ Schöpferisch, ungeduldig und kompromißlos. Bürgermeister a. D. Professor Dr. Herbert Weichmann in ‚Die Welt‘ vom 5. Februar 1973, in: Max Brauer. 3. September 1887–2. Februar 1973. Meldungen, Reden, Nachrufe, hrsg. v. Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Senatskanzlei - Staatliche Pressestelle, Uelzen 1973, S. 17–19, hier: S. 17. gedeutet werden. Brauer sprach als offizieller Repräsentant der Hansestadt, versuchte aber auch, auf einer persönlichen Ebene Verbundenheit mit der Zuhörerschaft zu demonstrieren, etwa indem er mehrfach auf persönliche Kontakte zu Mitgliedern der jüdischen Gemeinde verwies und seine eigenen Exilerfahrungen erwähnte. Auch nahm Brauer die Entwicklung der jüdischen Gemeinde vor 1958 in den Blick. Er selbst hatte im November 1948 an einer Feierstunde in der provisorischen Synagoge im jüdischen Altenheim in der Sedanstraße teilgenommen, und die Anerkennung der Gemeinde als Körperschaft öffentlichen Rechts fiel in seine erste Amtszeit.
Tatsächlich bedeutete der Beginn des Synagogenbaus einen wichtigen Schritt für die im September 1945 neugegründete jüdische Gemeinde. Bis zu diesem Zeitpunkt war provisorisch der Betraum im Oppenheimer Stift in der Kielortallee oder die Synagoge im Altenheim in der Sedanstraße genutzt worden, für Kulturveranstaltungen dienten die Räumlichkeiten der Gemeinde in der Rothenbaumchaussee. Neben dem Fehlen eines Gotteshauses wurde das religiöse Leben auch dadurch erschwert, dass die Gemeinde lange Zeit keinen eigenen Rabbiner hatte – eine Situation, die sich erst nach der Grundsteinlegung zu ändern begann: Seit 1960 amtierte Hans Isaac Grünwald für die Gemeinden in Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, ab 1962 konnte Dr. Nathan Peter Levinson von der Gemeinde angestellt werden. Er betreute zugleich die schleswig-holsteinischen Gemeinden und war Landesrabbiner in Baden. Bei der Grundsteinlegung eröffnete Ludwig Salomonowicz als Rabbiner mit seiner Ansprache den Festakt.
Auf die in den ersten Jahren immer virulente Frage nach dem „Gehen oder Bleiben“ hatte die Gemeinde mit der Entscheidung eines Synagogenneubaus eine Antwort gefunden: Der Bau bedeutete ein (vorsichtiges) Bekenntnis zu einer langfristigen Zukunft in Hamburg. 25 Jahre später bezeichnete Werner Nachmann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, die in der Nachkriegszeit erbauten Synagogen als ein „Wagnis“ Werner Nachmann, zit. in: Jüdische Gemeinde in Hamburg, Festschrift zum 25. Jahrestag der Einweihung der Synagoge in Hamburg. 1960–1985, Hamburg 1985, S. 7.. In der Retrospektive deutete er den Neubau der Synagogen als Ausdruck einer neuen Ära jüdischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland.
Auch für die jüdische Gemeinde in Hamburg hatte mit dem Bau der Synagoge der Aufbruch in eine neue Phase begonnen. Nachdem die Anzahl der Gemeindemitglieder bis zu Beginn der 1950er-Jahre gesunken war, wuchs ihre Zahl seit Mitte der 1950er-Jahre durch Rückkehrer, Zuwanderer aus Osteuropa und dem Iran an. Max Brauer beziffert die Zahl der Gemeindemitglieder in seiner Rede auf 1.390. Mit der Rückgabe der Gemeindebibliothek, der Eröffnung eines Alten- und Jugendheims sowie der Grundsteinlegung für das Israelitische Krankenhaus erfolgten in diesem Zeitraum weitere wichtige Schritte für den „Wiederaufbau“ und die Neuorganisation des Gemeindelebens nach 1945. Dennoch wurden die Gemeinde und das Gemeindeleben von der Hamburger Bevölkerung weiterhin kaum wahrgenommen und die Gemeinde trat ihrerseits nur selten öffentlich in Erscheinung.
Die von den Architekten Wongel & May entworfene (und von einem jüdischen Bauunternehmer errichtete) Synagoge wurde am 4.9.1960 eröffnet. Auch bei diesem Anlass war Max Brauer anwesend. Mit der Synagoge, deren Bau aus Entschädigungszahlungen finanziert worden war, standen der Gemeinde nicht nur angemessene Räume für ihre Gottesdienste und religiösen Feiern, sondern auch eine Mikwe sowie Räume für ihre Kulturveranstaltungen und Jugendarbeit zur Verfügung. Die Gemeinde hatte sich für einen architektonisch eher unscheinbaren Entwurf entschieden, das Gebäude nimmt sich im Straßenbild stark zurück und öffnet sich zum Innenhof anstatt zur Straßenseite. Dies kann als Ausdruck der fortbestehenden Unsicherheiten im Hinblick auf das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden und damit auch im Hinblick auf die Realisierbarkeit des eigenen Zukunftsentwurfs gedeutet werden. Die Erfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit spiegeln sich so im Baustil der Synagoge.
In den 1960er-Jahren, die in der Hansestadt im Zeichen des erfolgreichen Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Erholung standen, spielte die öffentliche Erinnerung an die Opfer des Holocaust, die Ende der 1940er-Jahre noch präsent gewesen war, kaum mehr eine Rolle. Neben dem Gedenkstein für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus auf dem Friedhof in Ohlsdorf und der dort ebenfalls aufgestellten Urne mit Asche der Toten aus dem KZ Auschwitz gab es – abgesehen von den alle fünf Jahre stattfindenden Gedenktagen zum 9. November – kein öffentliches Gedenken. Das von Brauer erwähnte „draußen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof gelegene Mahnmal war das bis zu diesem Zeitpunkt einzige im öffentlichen Stadtbild wahrnehmbare Erinnerungszeichen für die jüdischen Opfer. Mit dem Datum der Grundsteinlegung hatte die jüdische Gemeinde daher nicht nur einen symbolischen Tag gewählt, sondern schrieb sich auch in die lokal bereits etablierte Erinnerungskultur ein, was die Teilnahme für Brauer zu einer „Ehrenpflicht“ machte. Dabei versuchte die jüdische Gemeinde – oder einzelne ihrer Mitglieder – durchaus, die Erinnerungspolitik aktiv mitzugestalten und das Gedenken an die jüdischen Opfer im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Harry Goldstein, engagierte sich beispielsweise intensiv bei der Erarbeitung des ersten Hamburger Gedenkbuchs für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, das 1965 erschien.
Das Gedenken und der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sind zentrale Motive in der Ansprache Brauers. Zugleich verknüpft er das Schicksal der jüdischen Minderheit mit dem der Mehrheit, etwa wenn er von der Zerstörung der Synagogen spricht, die auch die Kirchen beschädigt habe, „was dem Einen angetan wird, ist zugleich dem Anderen zugefügt“. Er verzichtet dabei jedoch auf die Benennung von konkreten Taten oder Tätern und spricht stattdessen ganz im Duktus der Zeit von „den Jahren des Schreckens und der Finsternis“ und einer schmerzlichen Wunde, die geschlossen werden müsse. Im Gegensatz zu dieser „dämonisierende[n] Deutung“ Peter Reichel, Das Gedächtnis der Stadt, Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung 6, Hamburg 1997, S. 16. der NS-Zeit betonte Erich Lüth, Pressesprecher des Hamburger Senats, 1957 in einem Vortrag vor der Evangelischen Akademie in Loccum die Schuld, die die Mehrheitsgesellschaft auf sich geladen habe: „Wir, die Majorität der von einer brutalen Minderheit entmannten Christen, Humanisten und Demokraten Deutschlands standen nicht für den jüdischen Bruder ein, nahmen uns nur in heimlichen Einzelfällen verfolgter Freunde an. Der große Aufstand der Herzen und der Gewissen, der Sturm auch von den Kanzeln blieb trotz mancher einsamen Tapferkeit aus.“ Deutschland und die Juden nach 1945. Vortrag von Erich Lüth gehalten vor der Evangelischen Akademie in Loccum am 19. September 1957, hrgs. v. Aktion Friede mit Israel, Hamburg o. J., S. 4.
Ausführlich widmet sich Brauer in seiner Ansprache der Zeit vor 1933, die er als Phase der „blühende[n] Gemeinde[n]“ bezeichnet und damit eine ähnliche Formulierung wählt wie sein Vorredner Salomonowicz. Er skizziert die Verdienste bekannter männlicher jüdischer Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, wie etwa Leo Lippmann, Max Warburg oder Ernst Cassirer, und ehrt sie als „angesehene und gute Bürger unserer Stadt“. Damit verweist er auf das Bild eines friedlichen Zusammenlebens in der Phase der Weimarer Republik und unterstreicht abermals die guten Beziehungen zwischen der jüdischen Gemeinde und der Stadt. Mit der Formulierung „unsere Stadt“ schafft er ganz bewusst eine (Erinnerungs-)Gemeinschaft, die die Ermordung der Hamburger Juden wachhalten und die Verdrängung des Geschehenen durch die Mehrheitsgesellschaft verhindern soll. Neben diesen herausragenden Persönlichkeiten gedenkt er auch der, wie er es nannte, „einfache[n] Bürger“, und erinnert stellvertretend für die ermordeten Hamburger Juden an den ehemaligen Oberrabbiner Joseph Carlebach, eine weitere zentrale und herausragende Figur der jüdischen Gemeinde.
Schließlich grüßt Brauer die „Geretteten“ und spricht damit auch die im Exil lebenden ehemaligen jüdischen Hamburger an. In diesem Zusammenhang verweist er auf seine eigenen Exilerfahrungen aus politischen Gründen und wiederum auf Kontakte zu Hamburger Juden, die er in verschiedenen Ländern knüpfte. Zu einer tatsächlichen Einladung der jüdischen ehemaligen Hamburgerinnen und Hamburger kam es während der Amtszeit Brauers jedoch nicht. Ein erster vorsichtiger Anlauf zur Kontaktaufnahme erfolgte erst aus Anlass des Erscheinens des Gedenkbuchs einige Jahre später (1965), als Herbert Weichmann Bürgermeister war. Bis zur Einrichtung eines Besuchsprogramms sollte es bis Anfang der 1980er-Jahre dauern.
Die Rede Max Brauers spiegelt zahlreiche (erinnerungskulturelle) Themen der späten 1950er- und 1960er-Jahre wider. Die persönlichen Erfahrungen Max Brauers, der als verfolgter Sozialdemokrat 1933 seine Heimatstadt verlassen musste, machten ihn möglicherweise für bestimmte Themen sensibel. In jedem Fall erlaubten sie ihm, anlässlich der Grundsteinlegung immer wieder auf persönliche Erinnerungen und Erlebnisse zu verweisen und damit ein Gefühl von Verbundenheit herzustellen. Insgesamt blieben seine Ausführungen aber dem zeitgenössischen Duktus verhaftet, der sich auf das Motto „Wunden schließen – Würde zeigen“ Zit. n.: Kirsten Heinsohn, Wunden schließen. Das jüdische Hamburg im Wiederaufbau, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte (Hrsg.), 19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren, München / Hamburg 2012, S. 63–78, hier: S. 76. verdichten lässt, wobei der Finger nicht allzu tief in die Wunde gelegt wurde. So benannte er die Verantwortlichkeiten nicht, sondern stellte den versöhnlichen Ausblick auf eine neue Zukunft in den Mittelpunkt. Der Anlass der Rede verdeutlicht, dass 15 Jahre nach Neugründung der Gemeinde mit dem Synagogenbau ein – wenn auch architektonisch sehr dezentes – Zeichen für jüdisches Leben in der Hansestadt gesetzt wurde.
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Anna Menny, Dr. phil., geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) und verantwortlich für die Koordination der Online-Quellenedition "Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte". Sie hat an der Universität Hamburg Geschichte, Politik und Medienkultur studiert und war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München im Rahmen des Exzellenzprojektes "Christen, Mauren und Juden – Erinnerungskultur und Identitätspolitik in der iberischen Moderne" tätig. Dort hat sie zu "Spanien und Sepharad. Über den offiziellen Umgang mit dem Judentum im Franquismus und in der Demokratie" promoviert.
Anna Menny, Zwischen Erinnern und Neuanfang – die Grundsteinlegung der Synagoge in der Hohen Weide am 9.11.1958, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 21.08.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-188.de.v1> [06.12.2024].