Der Apell befindet sich in den Akten der jüdischen Gemeinden Altona, Hamburg und Wandsbek, ihrer Verwaltung und Organisation, die im Staatsarchiv Hamburg verwahrt werden. In diesem Schriftgut, in der Bestandsgruppe 522-1 Jüdische Gemeinden 1691–1945, im Konvolut 887 „Jüdische Bibliothek und Lesehalle 1908[!]–1928“, das uns Einblick gibt in den erfolgreichen Willensbildungsprozess der gemeindlichen Gremien in Hinblick auf eine Bibliotheksgründung und -führung, findet sich, beziffert mit der Nr. 176, dieses gedruckte „Rundschreiben“/„Flugblatt“ aus dem Jahr 1905, das sich an die Hamburger jüdischen Bürger richtete. Das Bemerkenswerte an diesem Aufruf: er markierte den Start einer – zur damaligen Zeit – neuartigen jüdischen Einrichtung in Hamburg, die nicht nur besonderen jüdischen, sondern auch allgemein deutschen Bedürfnissen Rechnung tragen wollte. Er unterstreicht außerdem die große Bereitwilligkeit jüdischer Vereine und einzelner jüdischer Hamburger, daran mitzuwirken.
Der gedruckte Appell vom Oktober 1905 beginnt formvollendet mit der Abkürzung „P.P.“ (praemissis praemittendis), lateinisch für „mit Vorausschickung des Vorauszuschickenden“, einer vor allem im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Formel für die Anrede und/oder eventuelle Titel. Er wandte sich – allerdings ohne sie direkt anzusprechen – an die Hamburger jüdische Öffentlichkeit und stellte die Idee einer „Jüdischen Bibliothek und Lesehalle” vor. Die unterzeichnenden jüdischen Vereine reihten sich damit in die allgemeine Bücherhallenbewegung Reformbewegung in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die eine Neuausrichtung und Öffnung der Volksbibliotheken forderte. in Deutschland ein, die mit der Devise: „Schafft Bücherhallen“ Aufsehen erregte. Am Ende des 19. Jahrhunderts, angesichts gesellschaftlicher Umwälzungen durch Industrialisierung, Spezialisierung und Professionalisierung und dem daraus resultierenden veränderten Bedürfnis nach Kommunikation, Bildung und Literatur, griffen in Deutschland (Volks- und Arbeiterbildungs-) Vereine, fortschrittliche Privatpersonen, aber auch Großindustrielle wie Krupp unter anderem – die letzteren nicht zuletzt um sich die Loyalität der Arbeiter mit Werksbüchereien zu sichern – die Forderungen und Erkenntnisse dieser Bücherhallenbewegung Reformbewegung in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die eine Neuausrichtung und Öffnung der Volksbibliotheken forderte. auf: Weite Bevölkerungskreise sollten leichten Zugang nicht nur zu gelehrtem, sondern gerade zu praktischem Wissen erhalten, dabei in den Lesehallen (mit langen Öffnungszeiten bis in die Abendstunden für die Berufstätigen) Bücher und Journale sofort an Ort und Stelle lesen können und aktuelle Informationen besonders durch viele Zeitungen und Zeitschriften erlangen. Die Zeitströmung hatte auch das jüdische Großstadt- „Publikum“ erfasst. Ihr Vorbild war die jüdische Berliner Lesehalle, die sich 1894/95 im zweiten Anlauf gegründet hatte und moderne, säkulare Literatur zu Geschichte, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst sowie belletristische Literatur offerierte. Da in Hamburg, initiiert von der Patriotischen Gesellschaft, einer Vereinigung zur Förderung des Gemeinwesens, bereits eine „öffentliche Bücherhalle“ im Jahre 1899 ihre Tore geöffnet hatte, wollten die Hamburger Juden nicht zurückstehen. Schon im November 1900 versuchten sie (noch vergeblich), eine Lesehalle zu gründen, da – so das Komitee, unterstützt von der Henry-Jones-Loge, die zum unabhängigen Orden B’nai B’rith gehörte – die allgemeinen Lesehallen nur in geringem Maße der Literatur Aufmerksamkeit schenkten, die „die Juden als solche“ interessiert, nämlich den „Vorgänge(n) in der Judenheit auf dem weiten Erdenrund“ und der „Sitte unseres Stammes“. Denn nach dem langen und mühsamen jüdischen Emanzipations- und Akkulturationsprozess im 19. Jahrhundert zeigte sich um die Jahrhundertwende sowohl der Erfolg wie auch die Grenze der Akkulturation. Die Auseinandersetzung mit dem ständig präsenten Antisemitismus tat ihr Übriges dazu. Wie konnte man als Jude und Deutscher leben, was bedeutete das „Jude sein“ in dieser Umwelt? Diese Fragen wurden immer häufiger gestellt, die Anpassungsbemühungen der älteren Generationen kritischer betrachtet. Ein neues Interesse am und ein Nachdenken über das Wesen des Judentums und seinen Platz im nationalen Kontext Deutschlands und Europas wuchs. Jüdische Kultur und Tradition sollten neu „gefunden“ werden, wiederbelebt oftmals in einer Idealvorstellung einer kulturellen und intellektuellen „Erneuerung des jüdischen Gemeinschaftsgefühls“, für das Martin Buber den Begriff „Jüdische Renaissance“ prägte. Diese sollte ihre Blütezeit in der Weimarer Republik finden. Das in Hamburg nun 1905 wiederholte Bestreben, eine Bibliothek zu gründen, entsprang ebenfalls dem Bewusstsein einer erforderlichen Selbstfindung und -behauptung. Die Notwendigkeit, eine spezifisch jüdische Einrichtung zu schaffen, die modernen Anforderungen gerecht werden konnte, wurde direkt im zweiten Absatz des Aufrufs hervorgehoben. Dabei sollten gerade jüdische Zeitungen und Journale vorgehalten werden – unter anderem auch für die in Hamburg zahlreiche jüdische Kaufmannschaft. Knapp und prägnant wurde die Aufgabe einer neuartigen jüdischen Bibliothek umrissen. Obwohl hier ein erzieherisches Moment (das „vorhandene Lesebedürfnis richtig zu lenken“) anklang, das auch bei der allgemeinen Bücherhallenbewegung Reformbewegung in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die eine Neuausrichtung und Öffnung der Volksbibliotheken forderte. („Richtungsstreit”) stark vorhanden war, wurde doch betont, dass die Lesehalle „frei von jeder Tendenz und Beeinflussung […] Bildung und idealen Genuss“ verbreiten sollte.
Ohne finanzielle Mittel für Buchkäufe und Verwaltung konnte das Vorhaben jedoch nicht gelingen. Deshalb baten die Unterzeichner um Unterstützung (das „angeheftete Formular“ hat sich nicht erhalten). Wie erfolgreich das Rundschreiben zunächst war, ist im Aktenbestand nicht überliefert. Doch wurde die Jüdische Bibliothek und Lesehalle, getragen von einem gleichnamigen Verein, nach Vorbereitungen einer Bibliothekskommission ab 1908, am 1.6.1909 eröffnet und am 1.4.1910 ein Zeitungsredakteur als nebenamtlicher Bibliothekar eingestellt. Am 10.4.1910 schlossen der Gemeindevorstand und der Verein „Jüdische Bibliothek und Lesehalle“ ein Abkommen, in dem sich die Gemeinde verpflichtete, ihre Bücher leihweise der Lesehalle zu überlassen. Unter den unterzeichnenden und unterstützenden Organisationen, die ebenfalls ihre Buchbestände zur Verfügung stellen (wollten), befanden sich an Kultur interessierte Vereine (Verein für jüdische Geschichte und Literatur, Gesellschaft für jüdische Volkskunde) aber auch wichtige philanthropische (Israelitisch-humanitärer Frauenverein) und politische Bewegungen („Hamb. Zionistische Vereinigung”), dazu das Israelitische Gemeinschaftsheim Eine nach dem Vorbild der englischen Settlementbewegung entstandene Einrichtung zur Förderung jüdischen Gruppengefühls., eine nach dem Vorbild der englischen Settlementbewegung entstandene Einrichtung, die, getragen von dem Ideal des jüdischen Zusammenhalts, soziale Unterstützung anbot, sowie der Israelitische Jugendbund. Selbst eine berufsständische Vereinigung, „Lehrer-Vereine Mendelssohn“, war beteiligt. Handschriftlich (nachträglich) eingetragen sind verschiedene Personen, darunter auch zwei Frauen (die Damen Tuch und Goldschmidt), Kaufleute (Gustav Tuch), Ärzte (Dr. E. Fink) und Lehrer (J. Feiner), Liberale (Dr. D. Leimdörfer) und Orthodoxe (Hermann Gumpertz), dem Centralverein Nahestehende und Zionisten. Sie alle trugen – ungeachtet ihrer oft divergierenden Anschauungen – im Engagement für die Hamburger jüdische Gemeinde und einer fortschrittlichen Bildungsidee diesen Aufruf mit.
Die gesamtgesellschaftliche Strömung der Bücherhallenbewegung Reformbewegung in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die eine Neuausrichtung und Öffnung der Volksbibliotheken forderte. fand in Deutschland besondere Unterstützung durch die unterschiedlichen Bildungsvereine, die voller Optimismus hofften, mit Hilfe einer neuartigen Einrichtung „wertvolle“ Bildung vermitteln und Bildungsschranken minimieren zu können. Die „Gründungsurkunde“, zeigt, dass diese Bewegung von den Hamburger Juden aufgegriffen, angenommen und gemäß ihren Vorstellungen gestaltet wurde. Sie gehörten damit zu den ganz wenigen jüdischen Gemeinden, die sich kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert für die Einrichtung einer zeitgemäßen jüdischen Bibliothek und Lesehalle einsetzten. Befördert wurde dieses Engagement von der innerjüdischen „Erneuerungs“-Bewegung jüd. Erneuerungsbewegung, frühes 20. Jahrhundert, die vor allem eine Aktualisierung des Judentums im Rahmen der sozialen Reformbewegungen zum Ziel hatte., die auch mit der Suche nach sinn- und identitätsstiftenden Elementen einherging. Die Lesehalle sollte nicht nur das traditionelle religiöse Schriftgut umfassen, vielmehr wollte sie sich mit ihren Medien auch der Welt öffnen, die Hamburger jüdischen Leserschichten über politische, kulturelle und soziale Ereignisse unterrichten und Wissen zur beruflichen Fortbildung und Lebensgestaltung sowie Unterhaltung vermitteln.
Das nicht mehr im Aktenbestand abgebildete weitere Schicksal der Bibliothek, war und ist ebenfalls eng mit den Lebensumständen (nicht nur) der Hamburger Juden verknüpft: Blütezeit am Ende der Weimarer Republik, Bedrohung, versuchte Zerschlagung der Bibliothek und Verschleppung der Bücher während der NS-Zeit, ab 1945 die beginnenden Restituierungsbemühungen, dann die überraschende Rückführung der Bibliothek 1957 aus der damaligen DDR nach Hamburg, mitten im „Kalten Krieg“. Jedoch konnte die jüdische Gemeinde – unschlüssig, ob nach 1945 „Bleiben oder Gehen“ in und aus Deutschland richtiger war – der jetztigen „Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Hamburg“ nur äußerst mühsam ein neues Fundament bauen. Das Jahr 2013 brachte mit einer Kooperation zwischen Jüdischer Gemeinde Hamburg und Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky einen neuen Impuls: Restaurierung, Katalogisierung und Ausstellung eines Teilbestandes dieser Bibliothek wurden vereinbart. Es bleibt zu hoffen, dass die Gründungsidee von vor über 100 Jahren immer noch eine Gegenwart und eine Zukunft hat.
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Alice Jankowski, Dr. phil., studierte in Marburg und Hamburg Afrikanische Sprachen und Kulturen (Schwerpunkt Äthiopien), Ethnologie und Vor- und Frühgeschichte und leitete bis 2009 die Bibliothek des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Außerdem war sie Lehrbeauftragte an der Fachhochschule (HAW) und der Universität der Bundeswehr (Helmut-Schmidt-Universität), beide Hamburg.
Alice Jankowski, Die Gründung der Jüdischen Bibliothek und Lesehalle, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-22.de.v1> [20.11.2024].