Dieser Aufruf zum Sammeln von Folklore war der erste seiner Art im jüdischen Kontext. Das Jüdische des Fragebogens ist durch das Magen-David-Symbol der Henry Jones-Loge von Hamburg im Briefkopf offensichtlich. Darunter findet sich eine programmatische Darlegung zur Bedeutung der Folklore für die jüdische kulturelle Identität. Diese einseitige Einladung ist von drei Mitgliedern des „Comités der Henry Jones-Loge für jüdische Volkskunde“ unterzeichnet: M Deutschländer, Dr. Max Grunwald und Gustav Tuch. Es ist unklar, wie viele Kopien des Dokuments verteilt wurden. Das vorliegende Exemplar wurde im Archiv der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) in Basel aufbewahrt, einer Gesellschaft, die 1896 von dem berühmten Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer gegründet wurde. Hoffmann-Krayer gründete später eine jüdische Sektion innerhalb der SGV. Der Fragebogen verweist auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung der jüdischen Volkskunde und der Institutionalisierung der „Volkskunde“ im weiteren Sinne. Abgesehen von seiner symbolischen Bedeutung weist der Inhalt des Fragebogens jedoch nur wenige spezifisch jüdische Aspekte auf.
Der pathosgeladene Text, der viele Ausrufezeichen enthält, vermittelt eine hohe Dringlichkeit des Anliegens M Deutschländer, einer der Unterzeichner, war eine Schlüsselfigur in der jüdischen Gemeinschaft Hamburgs und Gründungsdirektor der Henry Jones-Loge (B’nai B’rith). Der Bankier Gustav Tuch (Hamburg, 1834–1909) förderte diese Initiative. Der geistige Kopf hinter diesem Unternehmen war jedoch Max Grunwald. Grunwald hatte ein Jahr zuvor, nach Abschluss seines Studiums in Breslau, eine Rabbinerstelle an der neu gegründeten Dammtor-Synagoge angenommen.
Der offenen Einladung, sich dieser Initiative anzuschließen, wird durch einen zweiseitigen ethnografischer Fragebogen ergänzt. Dieser ist in sechs Abschnitte und 34 Punkte unterteilt, zusammen mit einigen Vorbemerkungen zum Einstieg ins Sammeln, gefolgt von einigen Erläuterungen zur Initiative selbst. Wie einige ähnliche Fragebögen präsentierte auch dieser eine methodische Vorgehensweise, um das Feld der jüdischen Folklore zu strukturieren und ein breites Publikum anzusprechen.
Dieser Fragebogen ist der erste seiner Art im jüdischen Kontext und nimmt die Gründung der Gesellschaft für jüdische Volkskunde zwei Jahre später vorweg, die 1898 die erste Ausgabe ihrer eigenen Zeitschrift (die Mitteilungen) veröffentlichte. In der Tat wurde ein Teil des durch den Fragebogen gesammelten Materials in den ersten Ausgaben der Mitteilungen veröffentlicht.
Ethnografische Fragebögen bestehen aus einer Reihe von Fragen, die von einer Handvoll bis zu über tausend reichen, von Forschenden zusammengestellt und an lokale Multiplikatoren wie Lehrer, Ärzte oder Pastoren verschickt werden. Diese wiederum führten Interviews und füllten die Fragebögen aus. Die Antworten wurden dann an die Forschenden zurückgeschickt. Hunderte solcher Fragebögen wurden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verteilt. Sie fungierten als Brücke zwischen Wissenschaftlern, Sammlerinnen und Sammlern und dem „einfachen Volk“, da sie unzählige Sammlerinnen und Sammler dazu inspirierten, die Lieder, Volksmärchen und Bräuche des Volkes zu transkribieren, bevor sie diese an Wissenschaftler weiterschickten, die sie wiederum analysierten. Anstatt ethnografische Fragebögen als reine Methodik zur Datensammlung zu betrachten, sollten sie stattdessen als ein Vehikel zur Transformation von Wissen und kulturellen Hierarchien verstanden werden. Auf der Grundlage eines dialogischen Ansatzes sind sie bestrebt, möglichst viele Individuen in die Prozesse der Wissensproduktion einzubeziehen.
Die 1890er-Jahre brachten ein neues Interesse an volkskundlichen Studien in Europa, und dementsprechend erschienen zahlreiche dieser Fragebögen. Die folgenden zwei Jahrzehnte können als die prägenden Jahre dieser Disziplin angesehen werden, neue Zeitschriften und Gesellschaften für Volkskunde im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus entstanden. Ethnografische Fragebögen waren ein entscheidendes Element in dieser prägenden Phase der Volkskunde. So gab beispielsweise Friedrich S. Krauss, ein jüdischer Gelehrter, der in Wien tätig war, die Zeitschrift Am Urquell heraus, deren erklärtes Ziel darin bestand, Volkskunde aus aller Welt zu sammeln und zu analysieren. Krauss war gegen jede Instrumentalisierung der Volkskunde für eine bestimmte Nation oder eine bestimmte Region und betrachtete die Volkskunde als eine „Wissenschaft vom Menschen“. Um für seine universelle Volkskunde zu werben, verwendete auch Krauss gelegentlich ethnografische Fragebögen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift. Diese bestanden jedoch eher aus sehr kurzen Umfragen, die typischerweise ein spezifisches Thema behandelten.
Am anderen Ende des Spektrums gab es Fragebögen, die fast 2.000 hochspezifische Fragen in Buchform umfassten. Dies war der Fall bei der Wallonischen Gesellschaft für Volkskunde, die von Eugène Monseur geleitet wurde, der Grunwald bei der Gründung der Gesellschaft für jüdische Volkskunde in Hamburg behilflich war. Die meisten Fragebögen lagen zwischen diesen beiden Extremen und enthielten einige Dutzend Fragen.
Grunwalds Fragebogen war weder eine kurze Umfrage, noch ein Buch mit detaillierten Fragen – er war umfassend und enthielt keine geschlossenen Fragen. Sein Flugblattformat und die Art und Weise, wie er das Feld abbildete, war keineswegs neu. Grunwald war in Schlesien aufgewachsen, hatte an der Universität Breslau studiert und das benachbarte Rabbinerseminar besucht. 1895 gab die Schlesische Gesellschaft für Volkskunde einen Fragebogen heraus und gründete kurz darauf ihre Zeitschrift, die Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. Grunwald war von Anfang an Mitglied der Gesellschaft. Da Grunwalds Fragebogen eine fast exakte Kopie des schlesischen Fragebogens war, kann die Hamburger jüdische Initiative als eine Adaption dieses schlesischen Projekts betrachtet werden. Der schlesische Fragebogen enthielt jedoch mehr Erklärungen. Grunwald übernahm die Überschriften und behielt die Reihenfolge der einzelnen Themen bei, um das Dokument an den jüdischen Kontext anzupassen, änderte er aber einzelne Punkte oder ergänzte Formulierungen, etwa wenn bestimmte Begriffe aus der jüdischen religiösen Tradition verwendete. Dem regionalen Fokus des schlesischen Fragebogens blieb Grunwald während seiner gesamten Laufbahn treu, da sein Konzept der jüdischen Folklore auf der Verwurzelung der Juden mit ihrer jeweilige Umgebung basierte – im Hinblick auf die Geschichte der verschiedenen jüdischen Gemeinden und ihrer Rituale, Traditionen und Volkskultur. In seinen Mitteilungen wurden in einigen Artikeln verschiedene antike, mittelalterliche oder frühneuzeitliche Texte vorgestellt und analysiert und daraus jüdische Volkserzählungen oder Beschreibungen von Traditionen extrahiert. Andere Artikel bezogen sich auf bestimmte Gemeinden – von den Juden des Kaukasus bis zu denen in Braunschweig – und beschrieben deren besondere Geschichte, Traditionen und Kultur.
Grunwald erwähnt in seiner Einleitung zum Fragebogen drei wissenschaftliche Arbeiten, die von Johann Jacob Schudt, Moritz Güdemann und Richard Andree verfasst wurden. Erstere und letztere wurden von Nichtjuden verfasst und präsentieren einen Blick von außen auf die jüdische Kultur – von Schudts frühneuzeitlicher vorurteilsbehafteter Perspektive auf das Judentum bis hin zu Andrees moderner rassistischer Darstellung von Jüdinnen und Juden. Obwohl Grunwald in der ersten Ausgabe der Mitteilungen seine Leserinnen und Leser davor warnt, sich auf Andrees Arbeit zu verlassen, ist die Tatsache, dass er für sein neues Vorhaben auf solche Werke zurückgreift, bezeichnend dafür, dass er die jüdische Volkskunde im Dialog mit der deutschen Wissenschaft positionieren wollte.
Drei ethnografische Fragebögen, die dem hier vorgestellten von 1896 etwas ähnlich waren, erschienen in anderen – wenn auch unterschiedlichen – jüdischen Kontexten. Der erste wurde 1914 von Alter Druyanov, Haim Nahman Bialik und Yehushua H. Ravnitski – der Kerngruppe der Bewegung zur Renaissance des Hebräischen aus Odessa – auf Hebräisch veröffentlicht. Auch er war knapp gehalten und lieferte wenig Material, einige der gesammelten Materialien wurden in den Reshumot-Bänden veröffentlicht, die nach 1918 erschienen. Ein Fragebogen, der dem von Grunwald sehr ähnlich ist, erschien 1917. Verfasst von Immanuel Olswanger, wurde er von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde herausgegeben.
Der erfolgreichste Fragebogen war das „Handbuch für den Sammler“ des YIVO, das sich auf ein Netzwerk von Zamlern (Sammlern) stützte. Die Broschüre des YIVO wurde erstmals 1927 in Vilnius veröffentlicht. Sie war in erster Linie auf die Erfahrungen jiddischsprachiger Juden zugeschnitten, bezog sich auf Themen und Gebräuche, die im Jiddischen bekannt waren, und war methodisch darauf ausgelegt, die Zamler zu unterrichten und weiterzubilden.
Im Gegensatz zu diesen drei Fragebögen, die denen von Grunwald ähnelten, erinnert Sh. Anskis Fragebogen, der 1915 in Petrograd veröffentlicht wurde, an den sehr detaillierten Ansatz, den die Wallonische Gesellschaft verwendete. Er enthielt 2.087(!) Fragen, meist Ja-Nein-Fragen, die Sitten und Gebräuche des jüdischen Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod abdeckten.
Schließlich veröffentlichte Bernhard Heller, Professor am Rabbinerseminar in Budapest, 1930 einen hebräischen Fragebogen in Zion Me’asef, der eine Übersetzung eines deutschen Fragebogens war, der ursprünglich für den Atlas der deutschen Volkskunde erstellt worden war. Im Gegensatz zu Grunwald, der seine schlesischen Quellen nicht preisgab, vermerkte Heller, dass er sich auf diesen deutschen Fragebogen stützte.
Kurz nach der Gründung der jüdischen Volkskunde durch die Henry Jones-Loge in Hamburg zog Grunwald 1905 nach Wien, wo er als Rabbiner in der Leopoldstädter Synagoge wirkte. Er lebte bis 1938 in Österreich. Nach dem „Anschluss“ gelang es ihm, nach Jerusalem zu emigrieren, wo er und seine Frau Margarethe zu ihrem gemeinsamen Sohn Kurt zogen.
Obwohl der Fragebogen von 1896 keine große Resonanz auslöste, kaum originell war und im Laufe der Jahre andere Fragebögen in der Geschichte der jüdischen Volkskunde erfolgreicher sein sollten, ist er ein Eckpfeiler für die Entstehung der jüdischen Volkskunde. Darüber hinaus bedeutete er einen wichtigen Schritt, um die Wissenschaft des Judentums in einen stärkeren Dialog mit der Öffentlichkeit zu bringen und gleichzeitig den Einfluss der Wissenschaft auf den Umgang der Juden mit den Herausforderungen der Moderne zu erweitern.
Dani Schrire, Dr., ist Lecturer (Juniorprofessor) an der Hebräischen Universität Jerusalem im Programm für Volkskunde und Kulturstudien. Er befasst sich mit den Überschneidungen zwischen jüdischer Folklore und internationaler Folkloristik, sowie ethnografischen Fragebögen, Sammlern und Sammeln, Postkarten und Wandern als kulturelle Praktiken.
Dani Schrire, Der erste ethnographische Fragebogen zu jüdischen Volkskunde-Studien, Sammlungen zur jüdischen Volkskunde, erschienen in Hamburg, November 1896 (übersetzt von Insa Kummer), in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 27.09.2021. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-174.de.v1> [31.10.2024].