Benannt nach dem Philosophen Franz Rosenzweig, der zu den bedeutendsten Exponenten einer jüdischen Renaissance in der Weimarer Republik gehört hatte, nahm ein Jahr nach seinem Tode die Gedächtnis-Stiftung am 28.11.1930 ihre Tätigkeit in Hamburg als ein Lehrhaus der Erwachsenenbildung auf. Vergleichbare Institutionen gründeten sich neben Frankfurt am Main auch in Berlin, Köln, Mannheim, München und Stuttgart. Es gelang dem Hamburger Tuchgroßhändler Herrmann Philipp (1863-1938), welcher der Orthodoxie zuzurechnen und langjähriges Mitglied des Vorstandes der Deutsch-Israelitischen Gemeinde war, prominente Köpfe des Hamburger Judentums, darunter Ernst Cassirer, Max Warburg und Joseph Carlebach, in der Stiftung zusammenzuführen. Wesentliche personelle Impulse gaben die drei Hamburger jüdischen Logen, vor allem die Steinthal-Loge.
Zum zentralen jüdischen Kulturverständnis gehörte seit jeher ein ausgeprägtes Bildungswesen, hinzu traten mit Beginn des 20. Jahrhunderts reformpädagogische Zielsetzungen. Sie wurden innerhalb des deutschen Judentums von Martin Buber und von Franz Rosenzweig vertreten, aber auch durch den Pädagogen und Philosophen Ernst Simon. Rosenzweig stieg Anfang der 1920er-Jahre rasch zu einer öffentlichen Figur mit großer Bekanntheit auf. Neben Buber wurde er zu einem der wichtigsten Exponenten einer jüdischen Renaissance. Sein Hauptwerk „Stern der Erlösung“ veröffentlichte er 1921. Im Sommer desselben Jahres bewarb er sich in Hamburg um die Stellung als Hauptlehrer und Vertreter des Schulleiters des Jüdischen Schulvereins. Er war hierfür von Rabbiner Nehemia Nobel, seinem Frankfurter Mentor, empfohlen worden. Die Angelegenheit zerschlug sich, als sich Rosenzweig endgültig bereit erklärte, die Leitung der Jüdischen Volkshochschule in Frankfurt am Main zu übernehmen. Unter seiner Leitung entwickelte die Volkshochschule, alsbald in „Freies Jüdisches Lehrhaus“ umbenannt, ein ambitioniertes und auch erfolgreiches Lehrplanangebot, das zum Vorbild für viele andere jüdische Bildungseinrichtungen wurde. Einen niveauvollen jüdischen Bildungsanspruch zu pflegen und zu fördern, konnte die Hamburger Deutsch-Israelitische Gemeinde in der Weimarer Zeit nur unvollkommen institutionell verwirklichen. Der jüdischen Gemeinschaft gelang es nicht, die zahlreichen, aber dann doch vereinzelt bleibenden Bestrebungen in einem jüdischen Bildungswesen zu bündeln. Hierzu wäre eine Art Masterplan der Hamburger jüdischen Kultur- und Bildungsarbeit erforderlich gewesen. Gerade die stark bildungsorientierten jüdischen Logen der Stadt zeigten sich mit diesem Zustand unzufrieden und wünschten eine Aktivierung des Bildungswesens außerhalb der drei Kultusverbände der Gemeinde. In Altona stellte sich die Lage nicht anders dar. Die Zersplitterung des Vortragswesens wurde allseits beklagt. 1928 etablierte sich ein nicht allzu erfolgreicher „Bildungsausschuss“ der Deutsch-Israelitischen Gemeinde. Der Initiator der Rosenzweig-Gedächtnisstiftung, Herrmann Philipp, strebte vielmehr in Hamburg eine kulturpolitisch motivierte Renaissance des jüdischen Bildungswesens an und wurde in den kommenden Jahren zur treibenden Kraft dieser Entwicklung.
Die Namensgebung erfolgte bewusst programmatisch. Rosenzweig hatte in seinem Aufsatzband „Zweistromland“ (1926) seine Gedanken zu einer erfolgreichen jüdischen Erwachsenenbildung niedergelegt. Darin knüpfte er an frühere Veröffentlichungen an. In „Zeit ist´s“ (1917) heißt es: „Der Geist des Judentums verlangt nach eigenen Heim- und Pflegestätten. Das jüdische Bildungsproblem auf allen Stufen und in allen Formen ist die jüdische Lebensfrage des Augenblicks.“ Diesem Befund und dieser Aufgabe fühlte sich der Kreis um Hermann Philipp verpflichtet. Es sollte ein intellektuell-religiöses Netzwerk entstehen und eine neue, bildungsreformerische und formal gemeindeferne Institution geschaffen werden, die viele anzusprechen vermochte. Der Entfremdung vom Judentum und dem zunehmenden religiösen Analphabetismus sollte ein mittelfristig angelegtes Projekt für ein inhaltsvolles Judentum entgegengesetzt werden. Denn die Deutsch-Israelitische Gemeinde selbst als ein eher formaler Verbund würde dies nach berechtigter Sicht der Initiatoren der Stiftung nicht leisten können.
Am Gründungstag bildeten sich ein Ehrenpräsidium und ein mehrköpfiger Arbeitsausschuss unter dem Vorsitz von Hermann Philipp. Im November 1930 gehörten dem Ehrenpräsidium Prof. Dr. Ernst Cassirer, Hermann Gumpertz, Alfred Levy, Dr. Paul Ruben, und Max M. Warburg an. Dem Arbeitsauschuss gehörten neben Hermann Philipp die Rabbiner Bamberger (Wandsbek), Oberrabbiner Dr. Carlebach (Altona), Rabbiner Dr. Holzer, Rabbiner Dr. Italiener, RA Bernhard David, Landrichter Dr. Hermann Feiner, RA Dr. Louis Levy, Dr. Ernst Loewenberg, Prof. Isaak Markon, Wolfgang Meyer-Udewald, Dr. Nathan M. Nathan und Dr. Max Plaut an. Den Vorsitz des Arbeitsausschusses führte bis zu seinem Tode im März 1938 Hermann Philipp. Dieser Arbeitsausschuss betätigte sich sowohl als Vorstand als auch als Koordinierungsgremium. Ein engerer Dreier-Vorstand bildete sich aus Hermann Philipp (Synagogenverband), Dr. Hans Liebeschütz und Wolfgang Meyer-Udewald (Tempelverband). Personelle Überschneidungen des Arbeitsausschusses mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, hier Prof. Fritz Saxl, und mit dem 1934 / 35 gegründeten Hamburger Jüdischen Kulturbund gab es vielfach.
In den ersten Jahren blieb die Stiftung noch weit davon entfernt, das Anspruchsniveau des Frankfurter Lehrhauses zu erreichen, da man sich erst einmal im Bewusstsein der Hamburger Juden etablieren musste. Dass sich gerade während der NS-Zeit die Rahmenbedingen der Stiftung grundlegend wandelten, und doch diese Jahre die im Rückblick erfolgreichsten der Stiftung wurden, scheint paradox. Weil sich für die Hamburger Juden in ihrer zunehmenden Ausgrenzung das Leben in jeder Hinsicht änderte, fand eine Transformation der Bildungsideen statt. Die zunehmende Gettoisierung führte zu einer Expansion des innerjüdischen Kulturbereiches, die Ernst Simon 1959 mit dem Wort „Aufbau im Untergang“ Ernst Simon, Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistisċhen Deutschland als geistiger Widerstand, Tübingen 1959. kennzeichnete.
Der Arbeitsausschuss der Stiftung entschied sich für eine integrierende semesterliche Planung. Zum Wintersemester 1934 / 35 wurde ein Arbeitsplan mit acht Abteilungen aufgestellt. Von ihnen wurden sieben der Verantwortung der Stiftung und eine dem Bildungsausschuss der Gemeinde zugeschrieben. Das Lehrangebot strukturierte sich im Laufe der Jahre zyklenmäßig in folgende Hauptbereiche, die man als klassische Bereiche kennzeichnen kann: I. Hebräische Sprache (biblisches Hebräisch); II. Bibelkunde (Midrasch) – Einführung in Bibel, Talmud und Liturgie; III. Jüdische Geschichte und Literatur; IV. Religionsphilosophie – Jüdische Religionsphilosophie; V. Pädagogik und Philosophie; VI. Naturwissen – Naturlehre, VII. Allgemeine Geschichte; VIII. Kunstbetrachtung; IX. Judentum und Judenheit in der Weltgeschichte. In methodischer Hinsicht wurde das Hauptaugenmerk auf Vorträge und Arbeitsgemeinschaften gerichtet. Gerade in den akademischen Arbeitsgemeinschaften ließ sich die von Rosenzweig geforderte dialogische Erörterung und auch häusliche Vorbereitung und Vertiefung gut realisieren. Dieses anspruchsvolle Programm war für Jedermann offen. 1933 hatte Martin Buber programmatisch erklärt: „Das Lehrhaus muss den jungen jüdischen Menschen von heute ausrüsten helfen, der Situation standzuhalten. Aber es muss ihn auch ausrüsten, ihr als Jude standzuhalten“ Martin Buber, Ein Jüdisches Lehrhaus, in: Frankfurter Israelitisches Gemeindeblatt 3 (Nov. 1933), S. 1.. Die führenden Vertreter der Stiftung mussten sich jedoch eingestehen, dass sie eher bildungsferne Schichten nicht erreichten. Auch die jüdische Jugend ging in ihren zahlreichen Verbänden ihre eigenen Wege. In ihren Zielsetzungen musste die Stiftung also erste Abstriche machen.
Der Erfolg der Tätigkeit bleibt gleichwohl bemerkenswert. Das Angebot der Stiftung wurde zu einem Zentrum hamburgischer, jüdischer Bildungsarbeit. Ein Tätigkeitsbericht aus dem Jahr 1934 veranschaulicht das umfassende Programm, so wurden für die ersten fünf Jahre 16 Dozenten, 514 Arbeitsabende sowie Vorträge zu 26 Themen verzeichnet und die Gesamtzahl der regelmäßigen Teilnehmer an den Kursen bzw. Vorträgen auf etwa 750 geschätzt. Im Wintersemester 1935 / 36 erhöhte sich wegen der großen Nachfrage die Zahl auf 20 Dozenten, im Wintersemester 1936 / 37 auf 23 Dozenten, von denen einige mehrere Kurse übernahmen. Im Selbstverständnis der Stiftung erreichte man damit ein vollwertiges Lehrhaus. Leichte Akzentverschiebungen machten sich bemerkbar: Gegenwartsbetrachtungen über Palästina, etwa im Sinne einer Landeskunde, und Hebräisch-Sprachkurse dienten nicht nur zum tieferen Verständnis der Tora, sondern konnten auch für eine Auswanderung nach Palästina hilfreich sein. Schätzungsweise etwa ein Zehntel aller Gemeindeangehörigen besuchten die Veranstaltungen oder Kurse der Stiftung. Seit Herbst 1936 gestaltete sich die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs aus innerjüdischen Gründen schwierig. Letztlich war es die innere Zerrissenheit der Gemeinde und die unvereinbaren Positionen zwischen Orthodoxie und Liberalen, die zum Scheitern der Stiftung führten. Der Konflikt entzündete sich an der Frage um die Nutzung des Raumes für Veranstaltungen. Gegen den Gabriel-Riesser-Saal im Gebäude des liberalen Tempelverbandes gab es von orthodoxer Seite dauernde religiöse Vorbehalte. Der rückschauende Betrachter versteht derartige Querelen und fraktionierendes Revierverhalten gerade in der NS-Zeit kaum. Mitte Mai 1937 erklärte die bis dahin so erfolgreich agierende Franz Rosenzweig-Gedächtnistiftung gegenüber dem Bildungsausschuss der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, sie werde das „Jüdische Lehrhaus“ wohl zum Herbst 1937 schließen, die Stiftung solle nur noch in einem bescheidenen Umfang fortgeführt werden. Zum Herbst 1937 gelang es noch, ein Lehrangebot mit 12 Dozenten zu planen. Mit dem neuen Gemeinschaftshaus der Gemeinde in der Hartungstraße, das im Frühjahr 1938 eingerichtet wurde, hätten die innergemeindlichen Querelen beendet sein können. Aber es war zu spät. Im Mai 1938 erschien ein letzter Tätigkeitsbericht. Der Nachfolger im Vorsitz der Stiftung, der Privatgelehrte Paul Ruben, vermochte die Geschicke der Stiftung nicht mehr wirksam zu leiten. Im November oder Dezember 1938 beschloss die Stiftung ihre Selbstauflösung. Damit verloren die Hamburger Juden einen ihrer wichtigsten Kulturträger, der im NS-Staat für einige Jahre den Geist des inneren Widerstandes und der jüdischen Selbstachtung durch geistige Orientierung hatte wecken und bekräftigen können.
Dieser Text unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf er in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.
Ina Lorenz (1940), Prof. Dr. phil. habil., bis 2005 stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts besonders im norddeutschen Raum; Quelleneditionen zu den jüdischen Gemeinden Hamburg, Altona und Wandsbek vom 17. bis zum 20. Jahrhundert sowie Sozial- und Gemeindegeschichte der Juden mit Schwerpunkt NS-Zeit in Hamburg. Auch: http://mitglieder.gegj.de/lorenz-prof-em-dr-ina/
Ina Lorenz, Die Franz-Rosenzweig-Gedächtnisstiftung, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 07.06.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-65.de.v1> [06.12.2024].