Ausgangspunkt: Jacob Schiffs vermeintlich pro-deutsche Orientierung
Die Korrespondenz als Sonde für transnationale Aspekte der deutsch-jüdischen Geschichte
Zwischen deutscher Herkunft, amerikanischer Neutralität und transnationalen Familienbeziehungen
„Deutschsein“ und „Jüdischsein“ während des Krieges
Nachdem der Erste Weltkrieg im Sommer 1914 ausgebrochen war, fanden sich die jüdischen Einwohner in den Krieg führenden Staaten sowohl in ihrer Rolle als Staatsbürger als auch als Mitglieder einer transnationalen jüdischen Gemeinschaft an unterschiedlichen Fronten. Dieser Loyalitätskonflikt war dabei zugleich von einer praktischen und symbolischen Komponente geprägt, die dem Topos des jüdischen Brudermordes auf dem Schlachtfeld eine neue Konjunktur verlieh.
Nichtsdestotrotz hatten sich gerade viele Juden in Deutschland (wie auch in anderen europäischen Ländern) nach dem Ausbruch des Krieges erhofft, durch einen Kriegsbeitrag an der Front und in der Heimat ihren Patriotismus demonstrieren zu können. Der Erste Weltkrieg war aus jüdischer Perspektive also sowohl mit Ängsten um das Wohlergehen von Juden jenseits nationaler Grenzen als auch mit Hoffnungen auf vollständige Integration in die eigene nationale, das heißt nicht-jüdische, Mehrheitsgesellschaft verknüpft.
Traf dies auch auf bekannte Persönlichkeiten des jüdischen Bürgertums in Deutschland zu, für deren Einstellung Max Warburg im Sommer 1914 durchaus als repräsentativ gelten kann, war die Ausgangssituation in den neutralen USA wesentlich anders gelagert. Viele amerikanische Juden, die wie Schiff entweder selbst aus Europa stammten oder die Nachkommen europäisch-jüdischer Einwanderer waren, sahen sich mit der Herausforderung konfrontiert, nicht unter Verdacht zu geraten, für eine der Kriegsparteien einzutreten. Insbesondere amerikanische Juden deutscher Herkunft mussten sich seit Ausbruch des Krieges – wie deutschstämmige Amerikaner im Allgemeinen – mit dem Vorwurf ihrer vermeintlichen pro-deutschen Sympathien auseinandersetzen.
Viele Formulierungen innerhalb des Briefes legen zunächst die Vermutung nahe, dass Schiff beabsichtigte, Warburg Informationen mit einem teils vertraulichen Charakter zu übermitteln. Dazu zählt etwa der Hinweis auf die vermeintlich wohlwollende (aber nur im Privaten geäußerte) Einstellung deutscher Repräsentanten in den USA gegenüber seiner Neutralitätsperspektive. Letztlich weisen diese „offenen Worte eines Freundes“ aber einen starken selbstlegitimierenden Zug auf – eine Tendenz, die auch im Folgenden immer wieder thematisiert wird.
Während Max Warburg zu Beginn des Krieges sein Deutschsein sowohl auf lokaler, nationaler als auch transnationaler Ebene besonders stark akzentuierte und nicht als Gegensatz zu seinem Jüdischsein begriff, war die Situation Schiffs von einer komplexeren Gemengelage divergierender Loyalitätsbindungen charakterisiert. Konkreter Ausgangspunkt von Schiffs Brief war dabei der Verweis auf die kritischen Reaktionen bezüglich seines Interviews in der New York Times im November 1914 über die europäische Kriegskonstellation. Mit seinen Äußerungen schien Schiff nämlich sowohl seinen jüdischen als auch nicht-jüdischen Kritikern in Europa und den USA eine offene Flanke für einen Angriff geliefert zu haben: Schiff hatte in dem Interview zwei durchaus widersprüchliche Dinge miteinander verknüpft: Zum einen hatte er seine Sympathien mit Deutschland aufgrund seiner Herkunft verkündet, zum anderen hatte er vor den problematischen Konsequenzen eines längeren Krieges oder des uneingeschränkten Sieges einer der beiden Hauptkriegsparteien, Deutschland oder Großbritannien, gewarnt. Dies würde nicht nur die amerikanische Position, sondern auch die Möglichkeit einer stabilen europäischen Friedensordnung bedrohen.
Die Ausführungen Jacob H. Schiffs gegenüber Max M. Warburg vom 28. Januar 1915 thematisieren also insbesondere das Spannungsverhältnis, das sich seit Ausbruch des Krieges zunächst aufgrund der verschiedenen Handlungsspielräume von jüdischen Akteuren in den europäischen Kriegsgesellschaften und den neutralen USA ergab. Sowohl Verfasser als auch Adressat des Briefes waren erfolgreiche Unternehmer im Banken- bzw. Finanzwesen und damit zugleich in grenzüberschreitende wirtschaftliche Netzwerke eingebunden. Im Falle Max Warburgs dominierte jedoch mit Kriegsausbruch in der öffentlichen Sphäre die Hervorhebung seiner staatsbürgerlichen Loyalitätsbindungen und nicht seiner grenzüberschreitenden Verknüpfungen, zumal er zeitgleich zu einem Schlüsselakteur der Zentralisierung der deutschen Außenhandelspolitik aufgestiegen war, die er maßgeblich vorantrieb. Auf lokaler Ebene hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine prominente politische Stellung inne: so war er seit 1903 Mitglied der Hamburger Handelskammer und seit 1904 zudem Mitglied der Hamburger Bürgerschaft.
Obwohl der politische und wirtschaftliche Einfluss von Warburg und Schiff weit über den regionalen und nationalen Kontext hinausreichte, war er aus jüdischer Perspektive doch stark mit der Geschichte der Juden in Hamburg und New York verknüpft. Beide Orte hatten sich im 19. Jahrhundert zu Schlüsselorten der (jüdischen) Migration entwickelt: New York als Zentrum jüdischen Lebens in den USA einerseits, und Hamburg als Ausgangspunkt für die Überfahrt von Auswanderern nach Nordamerika andererseits, vor allem auch verbunden mit dem Namen Albert Ballins und der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag).
Max Warburg scheute als deutsch-jüdischer Patriot, der seine „kriegerischen Gefühle“ nach Kriegsausbruch offen artikuliert hatte, keine Mühe, die deutschen Kriegsanstrengungen auch finanziell zu unterstützen. Jacob Schiff wiederum war in seinem Handeln darauf bedacht, als amerikanischer Jude den von Präsident Woodrow Wilson vorgegebenen strikten Neutralitätskurs der USA einzuhalten. Patriotismus war in dieser Konstellation zwar an verschiedene übergeordnete Ausgangskonstellationen rückgekoppelt, verband sich insgesamt aber jeweils mit der Handlungslogik Konformität: für Warburg gegenüber der deutschen Kriegsposition, für Schiff gegenüber der amerikanischen Neutralitätssituation. Aus dieser Perspektive kritisiert er in seinem Schreiben die Haltung aller europäischer Kriegsparteien hinsichtlich zentraler „Position[en]“ als „falsch“.
Die größeren Handlungsspielräume, die sich für Schiff aus der amerikanischen Neutralität auf den ersten Blick ergaben, und ihm das in seinem Schreiben thematisierte Interview überhaupt erst ermöglicht hatten, bargen jedoch gerade auch für prominente Juden deutscher Herkunft in den USA inneres Konfliktpotential. Folglich erstaunt es nicht, dass Schiffs öffentliche Haltung gegenüber seinem Geburtsland Deutschland durchaus ambivalent war. Dieses Dilemma brachte Schiff gegenüber Warburg pointiert selbst auf den Punkt: „Genau so wie alle meine Korrespondenten in Deutschland mit der größten Bitterkeit über die Feinde, die Deutschland gegenüberstehen schreiben und mir sagen, dass Deutschland siegen müsse […] genau so scharf und ungebeugt schreiben mir meine Freunde, die auf der anderen Seite stehen […].“ Dahinter stand außerdem die Absicht, bei Warburg um Verständnis für seine Situation zu ringen.
Die unterschiedlichen Legitimationsansprüche der Kriegsparteien und deren jeweiliger Umgang mit Differenz verwiesen dabei auf die übergeordnete Frage, inwiefern während des Krieges mehrere Loyalitäten konfliktfrei nebeneinander existieren konnten. Dazu zählten staatsbürgerlich-politische, religiöse und ethnische Zugehörigkeiten und die daraus jeweils abgeleiteten Loyalitätsvorstellungen und -erwartungen, bei denen es sich jedoch nicht um starre, sondern um dynamische Bezugsgrößen mit einer stets verhandel- und wandelbaren Bedeutung handelte. Vor diesem Hintergrund müssen also die Ausführungen Schiffs gegenüber Warburg als Amerikaner, Deutsch-Amerikaner und als Jude eingeordnet werden. Verkompliziert wurde diese Situation im Falle Schiffs und Warburgs zusätzlich aufgrund ihres familiären Netzwerks. Nicht nur war Schiffs Tochter Frieda mit Warburgs Bruder, Felix, verheiratet, der sich 1894 in New York niedergelassen hatte. Vielmehr war Felix Warburg, der ebenfalls der deutsch-jüdischen Elite New Yorks angehörte, auch Teilhaber der von seinem Schwiegervater als Hauptinhaber geführten Firma Kuhn, Loeb & Co. Diese familialen Verbindungen, die für die Einordnung der Quelle ebenfalls relevant sind, thematisiert Schiff allerdings nur indirekt, etwa in der Schlussformel des Briefes: „Mit herzlichen Grüßen Ihnen selbst, Ihrer guten Mutter, Ihrer lieben Frau und mit Küssen für die Kinder, alles das auch von meiner Frau […].“
Doch waren es in Kriegszeiten gerade solche transatlantischen Verschränkungen auf mehreren Ebenen, die einem gesteigerten politischen und gesellschaftlichen Bedürfnis in den Kriegsgesellschaften entgegenliefen, die Mitglieder des eigenen Gemeinwesens nach eindeutig zu bestimmenden Loyalitätsbindungen einzuordnen.
Zugleich ist der Blick auf die Korrespondenz von Jacob Schiff und Max Warburg besonders dazu geeignet, transnationale und nationalgeschichtliche Perspektiven zusammenzubringen, um den widersprüchlichen Charakter deutsch-jüdischer Fremd- und Selbstzuschreibungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu thematisieren.
Im Gegensatz zu der Mehrheit der Juden im deutschsprachigen Kontext, die, wie Warburg, nach Ausbruch des Krieges bestrebt waren, die Vereinbarkeit von „Deutschtum“ und „Judentum“ zu vertiefen, stellte sich die Situation für amerikanische Juden deutscher Herkunft geradezu spiegelverkehrt dar. Denn in der amerikanischen Öffentlichkeit wurden „jüdisch“ und „deutsch“ zunehmend als synonyme Bezeichnungen und sich überlappende, negativ besetzte ethnische Differenzkategorien betrachtet.
Nach dem Kriegseintritt der USA im April 1917 sollte sich der Illoyalitätsverdacht gegenüber Deutsch-Amerikanern im Allgemeinen und deutschen Juden im Speziellen weiter zuspitzen. Und auch die Lage in Deutschland hatte sich zu diesem Zeitpunkt gegenüber dem Sommer 1914 stark gewandelt: Nicht nur gab es viele Anzeichen dafür, dass sich der Antisemitismus in Deutschland während der Kriegsjahre radikalisiert hatte („Judenzählung“ 1916). Vielmehr hatte gerade auch bei vielen Juden, die wie Max Warburg zu Beginn des Krieges große Integrationshoffnungen gehegt hatten, ein – wenn auch nicht immer öffentlich artikulierter – Desillusionierungsprozess eingesetzt. Max Warburgs „kriegerisch[e] Gefühle“ aus dem Sommer 1914 waren damit am Ende des Krieges nicht mehr gleichermaßen vorhanden – auch wenn er sich weiterhin als deutscher Patriot jüdischen Glaubens verstand und sich nach der offiziellen Kriegsniederlage als Delegierter in Versailles nun für die Zukunft der noch jungen Weimarer Republik einsetzte.
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Sarah Panter, Dr. phil., geb. 1982, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Universalgeschichte am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: jüdische Geschichte im deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum im 19. und 20. Jahrhundert, transnationale Geschichte, Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte, Digital Humanities sowie Mobilitätsforschung.
Sarah Panter, Transnationale Netzwerke und Fragen der Zugehörigkeit. Ein Briefwechsel zwischen Jacob Schiff und Max Warburg im Ersten Weltkrieg, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 07.03.2017. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-82.de.v1> [06.12.2024].