Im Lied wird von einem polnischen Juden namens Jone berichtet, der sich in Hamburg niederlässt. Dort heiratet er eine gewisse Freidchen, ohne sich von seiner ersten Frau (deren Name nicht genannt wird) scheiden zu lassen. Diese lebt folglich noch in Polen als agune. Gemäß jüdischem Religionsgesetz ist jede Frau, deren Mann verschwindet und nicht für tot erklärt werden kann eine agune, das heißt, eine gebundene Frau, die nicht neu heiraten kann. „Fahrende Leute“ berichten ihr von den Geschehnissen um ihren Mann, woraufhin sie ihre Heimat verlässt und zu ihrem Bruder nach Amsterdam reist, um sich Hilfe zu holen. Gemeinsam erreichen sie via Friesland die Stadt Hamburg, wo Jone vor das Rabbinatsgericht gebracht wird. Dieses verurteilt ihn dazu, Freidchen vorerst zu verlassen und allein zu leben bis klar ist, welcher Frau er den get Der „Scheidebrief“. Dieses Dokument übergibt der Ehemann seiner Frau im Beisein von Zeugen. Nimmt die Frau das Schriftstück an, ist die Scheidung rechtskräftig. ausstellen muss – ein Urteil, das Jone ignoriert. In ihrer Not appelliert die erste Frau an den (christlichen) Rat der Stadt und Jone wird verhaftet. Während er im Gefängnis beinahe zugrunde geht, bringt Freidchen sein Kind zur Welt. Die erste Frau erbarmt sich seiner daraufhin und bittet um Jones Freilassung, die tatsächlich erfolgt. Jone muss Hamburg verlassen und händigt der betrogenen ersten Ehefrau den get Der „Scheidebrief“. Dieses Dokument übergibt der Ehemann seiner Frau im Beisein von Zeugen. Nimmt die Frau das Schriftstück an, ist die Scheidung rechtskräftig. aus. Die Handlung, welche hier sehr vereinfacht und verkürzt wiedergegeben ist, erlaubt Einblick in das Leben der Aschkenasen während der frühen Neuzeit. So erfährt der Leser mehr über die Situation und den Status der Juden in Hamburg und Altona, über Rechtsprechung, Reiserouten und osteuropäische Juden im westaschkenasischen Raum.
Zwischen 1880 und 1924 / 25 kamen etwa 90.000 Juden aus Europas östlichen Regionen in die großen deutschen Städte, vor allem nach Berlin. Ihre emanzipierten westlichen Glaubensgenossen reagierten darauf sehr unterschiedlich: von Romantisierung und Verklärung bis hin zu offener Ablehnung. Lange Zeit wurde die Migration der Aschkenasen von Ost nach West in jenen Jahrhunderten als ein Aufeinanderprallen zweier Welten gedeutet, welche vorher nichts miteinander gemein gehabt und wenig voneinander gewusst hätten. Und tatsächlich waren diese späten Migrationswellen in ihrem Umfang, ihrer politisch-sozialen und kulturellen Bedeutung einzigartig. Das Bild „des Ostjuden“ aber wurde nicht erst durch sie geschaffen. Vielmehr war diese Stereotypisierung Teil eines Prozesses, der schon in der frühen Neuzeit begann und sich über die Haskala bis hin in moderne Diskurse zog. Osteuropäische Aschkenasen wanderten bereits nach den zerstörerischen Chmelnyzkyj-Massakern (sogenannte Kosaken-)Aufstände in den Jahren 1648 und 1649 der russischen und kosakischen Bevölkerung gegen den polnischen Adel, die auch gegen Juden und Jesuiten gerichtet waren (1648–1657) und den schwedischen Invasionen (1630–48; ab 1655) in signifikanter Zahl in die westlichen Territorien aus. Zuvor waren polnische Juden als Kaufleute und Armeelieferanten, als Lehrer, Rabbiner, Kantoren, Schächter oder Drucker in die deutschsprachigen Länder gekommen, wo großer Mangel an religiös gut ausgebildeten Männern herrschte. Nach 1648 änderte sich jedoch die soziale Zusammensetzung der einwandernden Juden und viele erreichten das westliche Aschkenas als verarmte Menschen oder gar als „Betteljuden“. Sie wurden zwar durch ihre Glaubensgenossen unterstützt, allerdings reichten die vorhandenen Kapazitäten (und manches Mal vielleicht auch der Wille) nicht aus, um der Not Herr zu werden und so brachen Konflikte auf: deutsche Juden sahen ihre Wohltätigkeit missbraucht und waren verärgert über die Unwilligkeit oder -fähigkeit der Neuankömmlinge, sich in Hinsicht auf Kleidung, Sprache, Verhalten etc. an die neue Umwelt anzupassen. Dazu kamen kriminelle Delikte, der Freikauf aus Gefängnissen wurde nötig, Kinder armer Eltern mussten versorgt oder Bedürftige für die Feiertage ausgestattet werden, was die Gemeinden sehr belastete. In Polen wiederum erkannte der so genannte Vierländerrat, das höchste Gremium jüdischer Selbstverwaltung in Polen-Litauen, schon früh (1635), was die westwärts gerichtete Migration für Frauen bedeutete, nämlich: als agunes zurückzubleiben. Daher beschloss dieses einzigartige Gremium, Abgesandte in die deutschen Länder sowie nach Böhmen zu schicken, um dort diejenigen Männer ausfindig zu machen, welche als „verschwunden“ galten und ihre Frauen zurückgelassen hatten. Auch im Lied steht eine solche verlassene Frau im Mittelpunkt der Handlung. Sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, indem sie sich mit Hilfe ihres Bruders auf die Suche nach ihrem Mann begibt. Zu der Zeit, als das Lied entstand, verstanden sich die Aschkenasen längst nicht mehr als eine große kulturelle Einheit, sondern waren sich ihrer unterschiedlichen Traditionen bewusst. Spätestens ab dem 16. Jahrhundert schlug sich auch literarisch nieder, dass die Aschkenasen der verschiedenen Regionen, Städte oder Länder eigene Identitäten entwickelt hatten – die von den jeweils anderen gern spöttisch betrachtet und charakterisiert wurden. Unterschiedliche Gegenüberstellungen (deutscher-polnischer-italienischer; deutscher-polnischer-Prager Jude) wurden zur beliebten Grundlage gereimter Sticheleien. Momente des Vergleichs dieser oft in Dialogform gestalteten Texte waren unter anderem: religiöse (Un-)Gelehrtheit und Observanz, intellektuelles (Un-)Vermögen, Tugenden wie Gastfreundschaft und Bescheidenheit, Kleidung und Aussehen, Ess- und Trinkgewohnheiten, Sozialverhalten, Hochzeitsbräuche und Heiratsalter der Kinder, Eheleben, Verhalten Kindern gegenüber etc. Die diversen Texte weisen zum Teil spannende Parallelen mit dem hier vorliegenden Lied auf. So wird zum Beispiel in der „Schönen Geschichte von einem polnischen Juden“ (vermutlich aus Prag, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts), eine ähnliche Situation zugrunde gelegt: ein polnischer Jude kommt nach Deutschland, heiratet dort erneut und zeugt weitere Nachkommen mit der zweiten Frau. Da er Kinder jedoch nicht mag, will er weiterziehen. Die beiden Frauen klagen ihn an und er muss sich vor dem Rabbinatsgericht für eine entscheiden. Offensichtlich war bereits zu diesem Zeitpunkt der polnische, bigamistische Jude im Westen (ohne Auskommen und ohne höhere Moral) zu einer Art literarischem Topos geworden.
Das Lied ist eine wertvolle historische Quelle für das Leben der Aschkenasen, die Bedingungen in Hamburg (und Altona), Migrationsbewegungen, aber auch die Bildung von Stereotypen: So spielen Hauptzentren jüdischen Lebens (Polen – Amsterdam – Hamburg) eine Rolle; ebenso reale Reiserouten (Amsterdam – Friesland – Hamburg – Altona); das Rechtssystem (Rabbinatsgericht, Hamburger Stadtrat); die Exekutive in Hamburg und Altona; weibliche Autonomie (allein reisen) bzw. Abhängigkeit (von männlichen Verwandten) und der Umstand, dass sich ein polnischer Jude im westaschkenasischen Gebiet befand. Als das Lied gedruckt wurde (1675), formten Hamburg, Altona und Wandsbek eine so genannte Dreigemeinde. Diese hatte ein gemeinsames Rabbinatsgericht, welches in Altona residierte, also dort, wo die Mehrheit der Aschkenasen lebte. Da das Aufenthaltsrecht für Nicht-Sefarden in Hamburg sehr restriktiv war, mussten viele Aschkenasen nach getaner Arbeit für die Nacht in ihre Heimatorte zurückkehren, zum Beispiel nach Altona. Auf diese Weise wurden auch Neuigkeiten zwischen den Gemeinden übermittelt. Im Lied wissen nicht nur die Juden Hamburgs, sondern auch Altonas (Str. 14.5) über Jones Verhältnisse Bescheid. Jones erste Frau und deren Bruder wenden sich an das in Altona residierende Rabbinatsgericht um eine Entscheidung zu erwirken und auch Jone muss dort erscheinen. Dies war gängige Praxis in Familienangelegenheiten, denn Fragen des Familienrechts waren Teil des Religionsgesetzes (Halacha). Folglich wurden auch Scheidungen nicht vor zivilen Gerichten, sondern von Rabbinern verhandelt. Über das in Altona tagende Rabbinatsgericht weiß man, dass seine Entscheidungskompetenzen weitreichend waren – nicht nur in Hinsicht auf die Bedeutung der Urteile, sondern auch rein geographisch: es sprach für Hamburg und ganz Schleswig-Holstein Recht. Des Weiteren wird im gesamten Text das Verhalten des Hamburger Rates den Juden gegenüber als sehr korrekt und zuvorkommend dargestellt: Jones Frau wird unterstützt und teilnahmsvoll behandelt, die Exekutive ist in ihrem Sinne aktiv. Aber auch Freidchen behauptet, gute Beziehungen zu den Herren der Stadt zu unterhalten (was in ihrem Fall jedoch auch zweideutig gemeint sein könnte). Der Hamburger Stadtrat des 17. Jahrhunderts nahm tatsächlich in Hinsicht auf jüdische Angelegenheiten eine eher liberal-fördernde Haltung ein, im Gegensatz zur Bürgerschaft. Hinlänglich bekannt ist, dass zwischen ihnen Uneinigkeit herrschte, was die Ansiedlung und Behandlung der jüdischen Gemeinschaft, besonders jedoch der Aschkenasen, anbelangte.
Interessant scheint die Frage, ob es tatsächlich polnische Juden in Hamburg gegeben haben könnte. 1656 hielt sich eine Gruppe von Flüchtlingen aus Polen in der Nähe von Hamburg auf. Die Sefarden halfen ihnen mit Geld- bzw. Sachspenden und stellten Boote zur Verfügung, damit sie weiterreisen konnten. Im selben Jahr zogen Flüchtlinge aus Polen nach Altona. Andererseits war die sefardische Gemeinschaft nicht übermäßig daran interessiert, ihre aschkenasischen Glaubensgenossen dauerhaft in Hamburg zu sehen. Oft kamen diese als Flüchtlinge aus Altona oder anderen Orten in die Stadt, teils blieben sie mit (stillschweigender) Duldung der Obrigkeit, teils legal. Ob sich also ein Charakter wie Jone illegal in der Stadt aufhielt (worauf nichts im Lied hindeutet), ob dem Dichter Ezechiel hier Unkenntnis der Verhältnisse vorzuwerfen ist oder ob Jone einfach zu einem Zeitpunkt der Duldung unter den anderen Aschkenasen der Stadt gelebt haben soll, ist unklar. Max Weinreich (1894–1969), einer der größten Kenner der jiddischen Sprache und Literatur, war davon überzeugt, dass dem Lied ein historisches Ereignis zugrunde liege. Für Hamburg bzw. Altona des 17. Jahrhunderts ist jedoch bisher kein Fall eines bigamistischen, aus Polen stammenden Juden bekannt. Trotz dieser offenen Fragen stellt das Lied ein faszinierendes Zeugnis für die Bedingungen jüdischen Lebens in und um Hamburg während des 17. Jahrhunderts dar und bietet einen wichtigen Einblick in die zeitgenössische Rezeption und Wahrnehmung jüdischen Lebens in Hamburg und Altona. So wird zum Beispiel die konkrete Lebenssituation der Aschkenasen zwischen Hamburg und Altona als bekannt vorausgesetzt und auch polnisch-jüdische Migranten scheinen nicht außergewöhnlich gewesen zu sein. Überaus bedeutsam ist, wie die Quelle das Verhältnis von jüdischer Gemeinde und Stadtrat darstellt. Der Hamburger Stadtrat erscheint fürsorgend und hilfsbereit in Bezug auf Anliegen von jüdischer Seite. Im Lied fungiert er sogar als Exekutive im Rahmen aktueller Verfahren des Rabbinatsgerichts. Damit verweist das Lied auf die zu der Zeit positiv-liberale Haltung des Hamburger Stadtrats den jüdischen Einwohnern gegenüber und zugleich auf die vielerorts übliche Praxis, weltlich-christliche Gremien für die Exekutive rabbinischer Gerichtsbeschlüsse heranziehen zu müssen.
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Diana Matut, Dr. phil, ist seit 2010 Lehrbeauftragte am Seminar für Judaistik/Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; darüber hinaus ist sie als Gastdozentin an zahlreichen Universitäten im In- und Ausland aktiv. Ihre Forschungsschwerpunkte sind jüdische Musik, sowie jiddische Sprache und Literatur, besonders in der frühen Neuzeit.
Diana Matut, Was zu Hamburg geschehen ist… Ein westjiddisches Lied über polnische Juden im Hamburg des 17. Jahrhunderts, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 20.08.2018. <https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-96.de.v1> [06.12.2024].