Mit dieser Frage wandte sich Henry Cohen (geb. 1892 in Hamburg) im Dezember 1946 an die Jüdische Gemeinde in Hamburg. Sein Schreiben ist heute Bestandteil einer Akte mit dem Titel „Rückwanderung nach Deutschland“. [2] Gemeinsam mit weiteren Unterlagen der Jüdischen Gemeinde wird die Akte im Staatsarchiv Hamburg verwahrt. Sie bilden dort den Bestand 522-2, der die Unterlagen ab 1945 umfasst. [3] Der Bestand ist ein Depositum, das Findbuch und die Unterlagen dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung der Jüdischen Gemeinde in Hamburg eingesehen werden. Derzeit hat dieser Bestand einen Umfang von 82 laufenden Metern, die letzte Ablieferung an das Staatsarchiv erfolgte im Jahre 2012.
Henry Cohen war im Jahre 1939 nach Shanghai emigriert. [4] Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemühte er sich um Auskünfte, um seine Rückwanderung nach Hamburg vorzubereiten. Aber auch andere Länder zog er in Betracht, etwa die USA und Australien. [5] Besieht man sich die Orte, aus denen die „Rückwanderer“ nach Hamburg heimkehrten, so nimmt Shanghai in den ersten Jahren nach Kriegsende augenscheinlich den vordersten Platz ein: Gemäß einer undatierten Aufstellung kamen in der Zeit von 1945 bis zum 15.10.1952 bei insgesamt 168 Rückkehrenden 27 Personen aus Shanghai, gefolgt von Israel (26), England (19), Frankreich (15) und Belgien (13) [6]. Die Liste zählt 25 Länder sowie Shanghai auf.
Diese und andere statistische Unterlagen können einer weiteren Akte des Bestandes 522-2 entnommen werden. Sie geben u. a. Auskunft über die Namen und Berufe der Rückkehrenden sowie das Datum ihrer Rückkehr. Zudem enthält die Akte einen Bericht vom 17.11.1952 zur Lage der Jüdischen Gemeinde in Hamburg: „[…] Jedoch sind gerade in den letzten beiden Jahren eine größere Anzahl von Rückwanderern nach Hamburg gekommen, wobei es sich meist um völlig Mittellose handelt, die hier hoffen, von Wiedergutmachungsleistungen leben zu können, während sie im Ausland auf Unterstützung angewiesen wären.“ [7]
Auch die eingangs genannte Akte enthält aufschlussreiche Zusammenstellungen über die Shanghai-Rückkehrenden, u. a. deren Anschriften vor und nach der Emigration, vor und während der Emigration ausgeübte Berufe, deren Pläne für Hamburg sowie Einschätzungen der jeweiligen Sprachkenntnisse.
Von seiner möglichen beruflichen Zukunft in Hamburg hatte Henry Cohen konkrete Vorstellungen: „Es könnte meinerseits nur geschehen, wenn ich mein kleines Lager an neuen und getragenen Schuhen, etwas Lager an Leder zur Schuhfabrikation mitbringen könnte, sowie das dazu gehörige Material an Nägel usw. Wäre ev[en]t[ue]l die Möglichkeit vorhanden einen Laden zu bekommen sowie genügend Verpflegung?“ [8]
Henry Cohen ist in keiner Rückwanderer-Liste der Jüdischen Gemeinde in Hamburg erfasst: Er wanderte im Jahre 1947 in die USA aus [9] und starb dort am 30.12.1967. [10] Warum er sich gegen eine Rückkehr nach Hamburg entschieden hatte, ist nicht dokumentiert, dies könnte aber in Zusammenhang mit der Antwort der Jüdischen Gemeinde auf sein Schreiben stehen: „[…] Wenn man ausserdem die ausserordentlich schlechte Ernährungslage und die praktische Unmöglichkeit der Rohstoffbeschaffung in Betracht zieht, so können wir Ihnen unter den gegebenen Umständen nur dringend abraten, sich mit dem Gedanken der Rückwanderung nach Deutschland zu befreunden.“ [11]
Nicht alle Shanghai-Auswanderer erhielten nach Kriegsende die Chance, zügig in die USA oder ein anderes Land ihrer Wahl einzuwandern. Dr. Hendrik George van Dam beschreibt etwa die Rückkehrenden noch 1951 als eine Gruppe, „die aus Deutschland und Österreich erst zur Auswanderung gezwungen, dann in Shanghai ihrer Freiheit beraubt wurde und sich nunmehr in ihrer Mehrheit – sechs Jahre nach Kriegsende – in Lagern aufhält“. [12] Dementsprechend groß muss die Enttäuschung der Menschen gewesen sein. Beispielhaft die Beschreibung der Shanghai-Rückwandernden im Lager Föhrenwald im selben Jahr: „Begreiflicherweise herrscht tiefe Niedergeschlagenheit, in einzelnen Fällen Verzweiflund [sic!], dass nach der langen Reise von Shanghai nicht nur unzulängliche Wohn- und Verpflegungsbedingungen angetroffen wurden, sondern auch jegliche geldliche Unterstützung ausgeblieben ist.“ [14] In einer dritten Akte des Bestandes 522-2 finden sich Berichte über ihre Situation.
Die vorgestellten Akten decken den Zeitraum von 1946 bis 1952 ab – von der ersten Kontaktaufnahme mit der Jüdischen Gemeinde in der alten Heimat bis zur Lage nach der Rückkehr. Die beiden zuerst angeführten Akten geben Auskunft darüber, wer zurückkommt, wo die Rückkehrenden in Hamburg unterkommen und welche Wünsche sie für ihre berufliche Zukunft haben. Die Unterlagen in der dritten Akte stammen von Norbert Wollheim. Sie weisen über Hamburg hinaus, indem sie auf überregionale Netzwerke und Initiativen zur Unterstützung der Rückkehrenden verweisen.
[1] Schreiben von Henry Cohen an die Jüdische Gemeinde in Hamburg, 29.12.1946, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1255.
[2] Ebd. In dieser Akte finden sich weitere Schreiben, in denen die Jüdische Gemeinde um Auskunft zur Vorbereitung einer möglichen Rückkehr gebeten wird, z. B. von Gertrud Hartwig aus Karachi/British India, 08.12.1946 und von Max Mandl, ebenfalls aus Shanghai, 08.4.1946 und 01.11.1946.
[3] Die Unterlagen der früheren jüdischen Gemeinden bilden im Staatsarchiv Hamburg den Bestand 522-1. Es handelt sich um einen geteilten Bestand, weitere Unterlagen der früheren jüdischen Gemeinden in Hamburg befinden sich in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem.
[4] Zur Bedeutung und zu den Besonderheiten von Shanghai als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge vgl. Abschnitt „Zuflucht in Shanghai“ in: Xin Tong, Rund um die Alster, rund um die Welt – Die Gebrüder Wolf im Exil Shanghai, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 25.6.2018. https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-245.de.v1 [09.3.2023]
[5] Schreiben von Henry Cohen an die Jüdische Gemeinde in Hamburg, 29.12.1946, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1255.
[6] Aufstellung „Rückkehrer aus dem Ausland 1945 – 15.10.52“, o. D., in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1384.
[7] Bericht von Dr. S./Kf. an E. Lüth, 17.11.1952, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1384.
[8] Schreiben von Henry Cohen an die Jüdische Gemeinde in Hamburg, 29.12.1946, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1255.
[9] Bescheid der Sozialbehörde Hamburg in Sachen Henry Cohen wegen Entschädigung für Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen, 12.9.1955, in: Staatsarchiv Hamburg, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 14341.
[10] Sterbefallmitteilung, 25.1.1968, in: Staatsarchiv Hamburg, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 14341.
[11] Aktenexemplar des Schreibens der Jüdischen Gemeinde in Hamburg an Henry Cohen, 10.2.1947, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1255.
[12] Schreiben von Dr. Hendrik George van Dam an die Konferenz der Obersten Wiedergutmachungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland, 08.5.1951, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1256.
[13] Bericht von Norbert Wollheim über die Shanghai-Rückwanderer im Lager Föhr[e]nwald b. Wolfratshausen, 02.2.1951, in: Staatsarchiv Hamburg, 522-2 Jüdische Gemeinde in Hamburg, Nr. 1256.