Das Quellendossier. Hintergründe und Zielsetzung

Im Januar 2021 haben wir mit der digitalen Neuauflage der Theresienstädter Tagebücher von Martha Glass ein neues Format im Rahmen der Schlüsseldokumente-Edition eingeführt: das Themendossier. Das Dossier-Format bietet Raum, umfangreiches Quellenmaterial bereitzustellen und quellennah in ein konkretes Thema einzuführen. Die Tagebücher von Martha Glass boten sich dafür in besonderem Maße an: Sie sind ein seltenes Zeugnis des Alltagslebens im Ghetto Theresienstadt, noch dazu aus der Perspektive einer Frau, und zugleich eine reichhaltige Quelle, die exemplarische Einblicke in die Überlebensstrategien einer Hamburger Jüdin angesichts unmenschlicher Lebensbedingungen erlaubt. Martha Glass, die am 31.1.1887 als Martha Stern geboren wurde und 1903 den aus Stanowitz bei Breslau (heute Stanowice bei Wrocław in Polen) stammenden Hermann Glass geheiratet hatte, wurde über 60-jährig zusammen mit ihrem Ehemann im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Nachdem Hermann Glass am 19.1.1943, wenige Monate nach seiner Ankunft im Lager, aufgrund der katastrophalen Verhältnisse verstorben war, begann Martha Glass ihre Gefühle, Erlebnisse und Gedanken in drei Notizbüchern festzuhalten. Martha Glass überlebte, konnte nach ihrer Befreiung 1945 zu ihrer Tochter Edith nach Berlin fahren und reiste von dort aus nach New York zu ihrer zweiten Tochter Inge.

Sowohl während ihrer Ausreise in die USA als auch während ihrer vorübergehenden Rückkehr nach Hamburg und Österreich hielt sie ihre Eindrücke schriftlich fest. Diese Notizen sind in der Familie erhalten geblieben und wurden dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden von Dr. Barbara Müller-Wesemann dankenswerterweise übergeben. Barbara Müller-Wesemann hat sich intensiv mit Martha Glass beschäftigt und konnte ihre Tochter Inge Tuteur noch in New York kennenlernen. Nachdem sie gemeinsam mit der Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg die erste Auflage der Theresienstädter Tagebücher herausgegeben und gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden die digitale Neuauflage initiiert hat, gab sie auch den Anstoß für eine Edition der beiden in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen Reiseberichte.

Gerade die Zusammenschau der drei Berichte, also der Theresienstädter Tagebücher und der beiden Nachkriegs-Berichte über die Ausreise in die USA bzw. die Europareise, ist dabei von großem Erkenntnisgewinn, indem sie Kontinuitäten und Parallelen offenbaren sowie Veränderungen und Brüche aufzeigen kann. Schnell war daher klar, dass wiederum die Schlüsseldokumente-Edition der richtige Rahmen für dieses Vorhaben ist. Bei den Berichten über die Schiffsfahrt von Bremerhaven nach New York bzw. über die vorübergehende Rückkehr nach Hamburg während der Europareise 1953 handelt es sich nicht nur um eine Fortsetzung des Schreibens von Martha Glass, vielmehr eröffnen sie den Blick auf neue Themenfelder, wie etwa die Nachgeschichte der Shoah oder die Geschichte des Überlebens, zu der auch die komplexe Frage nach dem Verhältnis zur ehemaligen Heimat gehört. Dass wir die Zeugnisse einer Person, die nicht nach Hamburg zurückkehrte, zum Ausgangspunkt für dieses Dossier nehmen, entspricht zum einen den historischen Gegebenheiten, da nur ein Bruchteil derjenigen, die es in die Emigration schafften, sich wieder in Deutschland ansiedelte, zum anderen unterstreicht diese Vorgehensweise unser Anliegen, Remigration in all ihren Facetten zu verstehen: Hierzu gehören neben der tatsächlichen Rückwanderung unseres Erachtens das Nachdenken über Rückkehr und die gedankliche Auseinandersetzung mit der ehemaligen Heimat, temporäre Formen der Rückkehr, ebenso wie die bewusste Entscheidung gegen eine Rückwanderung.[1]

Anmerkungen

[1] Vgl. zu diesem Remigrations-Verständnis den Sammelband: Irmela von der Lühe / Axel Schildt / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008, Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 34.